Wenn es kein schlechter Traum gewesen war, was dann?
Abbie steckte den Kopf durch die Tür. »Alles in Ordnung?«
»Ja«, sagte Beth und stellte das Wasser ab. »Ich werde mich nur nie wieder bei Bloomingdale’s blicken lassen können.«
Mit einem Arm an der Hüfte hielt Abbie sie fest, als sie zu den Fahrstühlen gingen. »Bist du sicher, dass du nicht schwanger bist?«, fragte sie halb im Scherz.
»Ganz sicher.«
»Dann brauchst du jetzt vor allem ein warmes Bett und ein ordentliches Erkältungsmittel. Du hast eindeutig Fieber.« Bei den Fahrstühlen warteten sie eine Weile, als eine Mutter mit zwei kleinen Kindern und einer zusammenklappbaren Sportkarre herauskam.
»Ich werde dich mit dem Taxi nach Hause bringen«, sagte Abbie, »und dir eine Brühe kochen.«
In Beths Ohren hörte sich das gut an. Sie traten in den Lift, und bevor dieser sie nach unten brachte, warf Beth einen letzten verstohlenen Blick auf das Musterzimmer.
Die Verkäuferin trug gerade den Messingtopf fort, unter einem Tuch versteckt. Doch der Torbogen hinter ihr war leer, und dahinter erblickte Beth nichts als die ewig wandernden Sanddünen.
31. Kapitel
Carter wusste, dass das ruinierte Labor noch nicht betreten werden durfte, aber er musste trotzdem hinein, durch den hinteren Gang. Er musste noch einmal den Ort sehen, an dem er seinen größten Triumph hatte feiern wollen und der stattdessen zum Schauplatz seiner größten Tragödie geworden war. Polizei und Spurensicherung waren bereits fertig und hatten alle möglichen Proben gesammelt, doch als er raus auf die Straße ging, musste er sich trotzdem unter dem gelben Absperrband der Polizei bücken.
Er war auf dem Weg zum biomedizinischen Labor, wo er sich mit Ezra treffen wollte. Dr. Permut hatte offensichtlich die Analyse der Tinte und des Materials der Schriftrolle beendet, und er war bereit, die Ergebnisse mit ihnen durchzugehen. Carter wartete, um die Straße zu überqueren, als ein schmutziger brauner Wagen neben ihm anhielt und er jemanden sagen hörte: »Sie wissen, dass das immer noch der Tatort ist, an dem wegen Brandstiftung ermittelt wird. Sie dürfen dort nicht rein.«
Carter bückte sich und spähte in den Wagen. Es war Detective Finley.
»Tut mir leid.«
»Wo wollen Sie hin? Ich kann Sie ein Stück mitnehmen.«
»Nicht nötig«, sagte Carter, »es sind nur ein paar Blocks.«
»Kommen Sie schon«, sagte Finley und winkte mit dem Arm, »springen Sie rein.«
Carter hatte den Eindruck, es sei mehr als ein Angebot, und nachdem der Detective das Gerümpel vom Beifahrersitz auf den Boden gefegt hatte, stieg er ein. »Geradeaus«, sagte Carter, »zur Sechsten. Dort können Sie rechts abbiegen.«
»Ehrlich gesagt«, sagte Finley und schob seine dicken Brillengläser auf dem Nasenrücken nach oben, »wollte ich ohnehin mit Ihnen reden.«
Genau das hatte Carter befürchtet. »Über die Leiche, die ich gefunden habe?« Dieser Satz, dachte er, gehört zu denen, von denen ich nie dachte, dass ich sie einmal aussprechen würde.
»Worüber sonst?«, sagte Finley, griff in die Brusttasche seiner Jacke und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor. »Sehen Sie sich das hier an.«
Carter nahm das Blatt und entfaltete es. Im Wagen roch es nach abgestandenem Kaffee und fettigen Burgern. Bei dem Papier handelte es sich um die Fotokopie von zwei Fingerabdrücken. Carter blickte zum Detective hinüber.
»Wir haben sie vom Handlauf am Kelleraufgang.«
»Sie sehen sehr deutlich aus«, sagte Carter und überlegte, was sich sonst noch über Fingerabdrücke sagen ließe. Er hatte sich noch nie zuvor welche näher angesehen.
»Ja, nicht wahr?«, sagte Finley. »Und viel zu perfekt.«
Carter schaute erneut auf das Blatt, und jetzt konnte er sehen, dass die Windungen des Abdrucks in der Tat bewundernswert komplett und intakt waren. Perfekte Kreise in der Mitte, perfekte Rechtecke am äußeren Rand, ohne einen einzelnen Bruch oder eine Abweichung.
»Es gibt keine perfekten Fingerabdrücke«, fügte Finley hinzu. »Wenn es sie gäbe, wären wir niemals in der Lage, mit ihrer Hilfe jemanden zu erwischen.« Er zog ein nicht besonders sauberes Taschentuch aus der Tasche und putzte damit erst die Brillengläser und anschließend die Innenseite der Frontscheibe. »Sie sind doch Wissenschaftler – was fangen Sie damit an?«
»Mit den Fingerabdrücken? Keine Ahnung. Vielleicht hat das Labor einen Fehler gemacht.«
Der Detective schüttelte den Kopf. »Nee, ich hab das alles höchstselbst erledigt.«
Carter schwieg. Das Einzige, was ihm dazu einfiel, war, dass ein perfekter Fingerabdruck von einem perfekten Wesen hinterlassen worden sein musste – so etwas wie einem Engel vielleicht. Aber er hatte nicht vor, den Vergehen, die der Detective ihm möglicherweise insgeheim zur Last legte, auch noch geistige Verwirrung hinzuzufügen.
»Sie können es mir jetzt zurückgeben«, sagte Finley, nahm das Papier und stopfte es zusammengefaltet zurück in die Tasche.
»Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann«, sagte Carter.
Der Detective nickte und bog rechts ab. »Welche Adresse?«
»Drei Blocks weiter, an der Ecke.«
Der Detective fuhr eine Weile schweigend, dann sagte er: »Vielleicht gibt es doch eine Sache, bei der Sie mir helfen könnten.«
»Ich werde es versuchen.«
»Der Gerichtsmediziner sagte, der Mann sei an den Verbrennungen gestorben.«
Carter wartete. War das nicht ziemlich offensichtlich?
»Aber da gibt es eine Merkwürdigkeit. Der Körper ist von innen nach außen verbrannt.«
Carter war verwirrt. »Falls Sie mich fragen, ob spontane Selbstverbrennungen tatsächlich vorkommen können, muss ich eindeutig verneinen.«
»Das habe ich auch gedacht. Aber da die beiden einzigen anderen Brandopfer, die ich dieses Jahr gesehen habe, in Ihrem Labor genau auf der anderen Straßenseite gearbeitet haben, dachte ich, Sie könnten mir vielleicht weiterhelfen.«
Carter wusste nicht, was er sagen sollte. »Zufall?«, schlug er schließlich vor.
Hinter der Kreuzung fuhr der Detective an den Straßenrand und hielt an. »Vielleicht«, sagte er. »Aber dann muss es schon ein ziemlich gewaltiger Zufall sein.«
Das können Sie laut sagen, dachte Carter, behielt es jedoch für sich. »Danke fürs Mitnehmen«, sagte er und versuchte, nicht den Eindruck zu erwecken, als könne er es gar nicht abwarten, aus dem Auto zu kommen.
Der Detective wartete, bis Carter die Straße vor ihm überquert hatte, und fuhr davon.
Zum ersten Mal, seit er zu Finley in den Wagen gestiegen war, holte Carter tief Luft. Er hatte das ungute Gefühl, dass er ihn wiedersehen würde.
Als er Dr. Permuts Labor betrat, war Ezra bereits dort. Pünktlichkeit war nicht Ezras Problem. Seinen Fakultätskollegen allerdings hätte Carter fast nicht wiedererkannt. Letztes Mal, als er hier gewesen war, um das Bruchstück von Ezras Schriftrolle zur Analyse vorbeizubringen, war Permut wie aus dem Ei gepellt gewesen, kein Härchen war verrutscht, sein weißer Laborkittel fleckenlos und von oben bis unten zugeknöpft.
Aber jetzt sah er aus, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen. Das Haar war ungekämmt, der Laborkittel zerknittert und schmuddelig, und selbst hinter der Brille konnte Carter die dunklen Ringe unter den Augen erkennen.
»Ich bin froh, dass Sie es heute geschafft haben«, sagte Dr. Permut und schloss demonstrativ die Tür hinter ihnen. »Ich will damit nicht länger warten.«
»Wir auch nicht«, sagte Carter. »Ezra hier, für den Fall, dass er Ihnen das noch nicht erzählt hat, ist der Eigentümer der Schriftrolle, die Sie analysiert haben.«
»Ja, er hat es erwähnt«, sagte Dr. Permut und wandte sich rasch dem Labortisch zu. »Ich werde mit Ihnen die Ergebnisse durchgehen, wie sie mir vorliegen«, sagte er, »und Ihnen steht es frei, daraus zu machen, was Sie wollen.«
Carter und Ezra wechselten einen Blick, dann folgten sie dem sichtlich verstörten Wissenschaftler zum Tisch, auf dem große Datenblätter mit dichten Sequenzen aus Zahlen und Buchstaben ausgebreitet lagen. Obwohl er sie genauso wenig entziffern konnte wie beim ersten Mal, erkannte Carter sie als das, was sie waren. Ezra erging es offensichtlich genauso.