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Er spürte eine Hand an seinem Ellenbogen, die ihn zurückzog.

»Sie dürfen dort nicht hinein«, hörte er jemand sagen. Als er sich umdrehte, sah er Dr. Baptiste, das Haar zerzaust, das Gesicht dreckverschmiert. »Sie können nichts mehr für ihn tun.«

Sie zog ihn fort.

»Was ist passiert?«, fragte Carter wie betäubt.

Sie zerrte ihn den Korridor hinunter und durch die Tür in ein evakuiertes Zimmer.

»Niemand weiß es«, sagte sie und wischte sich mit dem Ärmel ihres Kittels über die Augen. Er war grau vor Ruß. »In seinem Zimmer ging ein Rauchmelder los, und ich eilte los, um nach ihm zu sehen. In dem Moment sah ich den anderen Mann den Raum verlassen.«

»Welchen anderen Mann?«, fragte Carter, obwohl er es im Grunde bereits wusste.

»Der große mit dem blonden Haar«, sagte sie, und während sie sprach, schien ihr Blick Carter mit erstaunlicher Intensität zu durchbohren. »Wissen Sie, wen ich meine?«

»Ja.«

»Dann können Sie mir vielleicht etwas erklären«, sagte sie und ergriff erneut seinen Arm. »Er kam aus dem Zimmer, und ich sah, wie er die Tür hinter sich schloss. Ich hielt ihn auf, um ihn zu fragen, warum der Rauchmelder losgegangen sei. Ich ergriff seinen Arm, genau so wie Ihren jetzt«, sagte sie und blickte auf Carters Ellenbogen hinunter, »aber ich weiß nicht, was ich da festhielt.«

Carter wusste nicht, was er sagen sollte. Was sollte er ihr erzählen, das sie glauben könnte?

»Er trug eine dunkle Sonnenbrille«, fuhr sie fort, »so dass ich seine Augen nicht richtig erkennen konnte. Aber jetzt bin ich froh, dass ich sie nicht gesehen habe.«

»Das sollten Sie auch«, erwiderte Carter.

»Dann ist das ganze Zimmer einfach explodiert. Ich wurde durch den halben Flur geschleudert. Alles im Zimmer stand in Flammen«, sagte sie und schüttelte traurig den Kopf, »alles. Und der Mann mit der Sonnenbrille war verschwunden.«

Natürlich war er das, dachte Carter. So würde es immer sein. Er säte Tod und Verderben, und dann verschwand er. Was hatte er davon gehabt, Joe zu töten?

Aber da war eine Sache, die Dr. Baptiste gesagt hatte, die Carter nicht aus dem Kopf ging. Sie hatte gesagt, der Mann habe die Tür hinter sich geschlossen. Vorsichtig nahm Carter ihre Hand von seinem Arm und sagte: »Ich muss etwas erledigen.«

»Ich sagte Ihnen bereits«, wiederholte sie, »dass Sie nichts mehr tun können. Er ist tot. Ihr Freund ist tot.«

»Das weiß ich«, sagte Carter. »Haben Sie OP-Handschuhe dabei?«

»Was?«

»Einen OP-Handschuh – haben Sie einen dabei?«

Sie wühlte in der Tasche ihres schmutzigen Kittels und zog ein Paar Gummihandschuhe heraus. Rasch zog Carter sie über und ließ die Ärztin verwirrt im leeren Zimmer stehen.

Er ging den Korridor entlang und zum Schwesternzimmer zurück. Seine Erinnerung hatte ihn nicht getäuscht, an der Wand dort vorne lehnte eine Tür, eine Krankenhaustür. Die Oberfläche war schwarz und zersplittert, aber die Zimmernummer war immer noch heil, ebenso wie der metallene Türgriff. Es war die Tür zu Joes Zimmer.

Carter stellte einen Fuß gegen das zerbrochene Holz und trat zu. Das Holz zersplitterte vollständig, bis der Türgriff auf der einen Seite sich löste. Er trat auf der anderen Seite gegen das Holz, und auch hier lockerte sich der Türgriff. Dann riss er mit behandschuhten Händen beide Griffe los. Ein vorbeikommender Polizist musterte ihn merkwürdig.

»Sicherung von Fingerabdrücken«, sagte Carter und hielt die Türgriffe vorsichtig an der angesengten Kante fest.

Im Schwesternzimmer fand er einen großen Umschlag mit Patientenakten darin. Er holte die Akten heraus, legte die Griffe hinein und stopfte sie in die Innentasche seiner Jacke. Er warf einen kurzen Blick in Joes Zimmer und stellte fest, dass man eine schwarze Plastikplane neben die sterblichen Überreste gelegt hatte. Zwei Krankenhausmitarbeiter bückten sich, bereit, die Leiche anzuheben. So sehr er es auch hasste, sich der Aufgabe zu stellen, Carter wusste, dass er sich von seinem Freund verabschieden musste.

Er bahnte sich seinen Weg durch die Feuerwehrleute und Polizisten und betrat das, was von Joes Zimmer übriggeblieben war.

»Hey, Sie können hier nicht rein«, sagte einer der Sanitäter, aber der andere, der vielleicht den Ausdruck auf Carters Gesicht bemerkte, sagte: »Wir können Ihnen eine Sekunde geben«, und zog sich taktvoll ein Stück zurück.

Carter stand über den verschmorten, nahezu unidentifizierbaren Überresten, die einst sein Freund gewesen waren. Joe war ein großer Kerl gewesen, so stattlich und voller Leben. Doch alles, was jetzt von ihm übriggeblieben war, war ein Haufen geschwärzter Glieder und nackter Knochen, deren extreme Haltung die Grenze dessen ausdrückte, was ein Mensch ertragen konnte. Bei dem Anblick fühlte Carter sich an die Leichen erinnert, die man in Pompeji und Herculaneum ausgegraben hatte. Joes Gesicht, oder was davon übrig war, lag seitlich zum Boden gedreht, und Carter hatte das Bedürfnis, seinen Freund dort zu berühren und ihm Lebewohl zu sagen. Er kniete nieder und legte die Hand auf die eingesunkene versengte Wange. Mit dem Finger strich er über das ausgetrocknete Gewebe. Es fühlte sich an wie warmer Teer. Leise sagte er: »Auf Wiedersehen, Joe. Es tut mir so leid.«

Und noch ehe er sich dessen recht bewusst war, hörte er sich sagen: »Gott sei mit dir.«

Carter, der sein Leben lang voller Inbrunst an nichts geglaubt hatte, hätte nie gedacht, dass ihm so ein Satz je über die Lippen käme. Aber jetzt, wo er mit diesem Grauen konfrontiert war und kurz davor stand, sich noch Grauenvollerem stellen zu müssen, strömten die Worte so selbstverständlich aus ihm heraus wie Wasser aus einer Quelle … oder Blut aus einer Wunde.

35. Kapitel

Seit Stunden saßen sie bereits über den alten Texten. Immer wieder war Ezra die Bruchstücke der Schriftrolle durchgegangen, hatte den Text erklärt, ihn durch Einzelheiten aus der biblischen Geschichte ergänzt und Beweise zusammengetragen. Im nur schwach erleuchteten und zunehmend stickigen Raum konnte Carter sich nicht mehr länger wach halten und konzentrieren.

»Siehst du,«, sagte Ezra, als er zu einem anderen Fragment der Rolle kam, das in einer Schutzhülle steckte und mit Reißzwecken an die Wand geheftet war, »hier heißt es, dass die Wächter in Hunderten zählen, und dass Gott sie berufen hat, um über die Menschheit zu wachen.« Glucksend schüttelte Ezra den Kopf. »Sieht so aus, als hätten sie ihre Aufgabe zu gut erledigt.«

»Was meinst du damit?«, fragte Carter und nahm einen weiteren Schluck von seinem abgestandenen Kaffee.

»Sie hatten ein Auge auf die Frauen geworfen … und sind dabei auf dumme Gedanken gekommen.«

»Wo wir gerade von dummen Gedanken reden … ist es wirklich nötig, das Fenster geschlossen zu halten? Man kann hier drinnen kaum noch atmen.«

»Ich kann es nicht riskieren, dass die Schriftrolle noch weiter beschädigt wird«, sagte Ezra gereizt. »Ich habe dir gesagt, dass ich nur noch ein paar Stellen übersetzen muss, und dann muss ich das ganze Ding endgültig zusammensetzen.«

»Mach weiter«, gab Carter nach.

»Sie empfanden Lust.«

»Diese Engel konnten Gefühle entwickeln?«

»Ich habe nie behauptet, dass sie es nicht könnten. Ich sagte nur, dass sie keine Seelen besaßen.«

»Wozu sollte ein Engel auch eine Seele brauchen? Haben sie das nicht schon hinter sich?«

»Guter Einwand. Aber wie wir in diesem Abschnitt hier lesen«, sagte Ezra und deutete auf ein weiteres vergilbtes Fragment an der Wand, »fingen sie schließlich an, uns zu beneiden. Sie sahen, welchen besonderen Platz die Menschen, die als Einzige über eine Seele verfügten, in Gottes Augen einnahmen, und deshalb wollten sie ebenfalls eine haben.«

»Und sie konnten nicht einfach darum bitten?«

»Der Abschnitt hier ist zu verblasst, um ihn zu entziffern«, sagte Ezra und zeigte auf ein kleines Stück Pergament, »aber möglicherweise taten sie es, und Gott verweigerte es ihnen. Vielleicht waren sie auch einfach zu stolz, um darum zu bitten. Wir werden es niemals wissen.«

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