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»Stimmt, ich erinnere mich.«

»Also kann es doch gut sein, dass diese Höhle noch nie zuvor oberhalb des Wasserspiegels lag.«

Kevin zuckte die Achseln. Vermutlich war das durchaus möglich. Im dämmrigen flirrenden Licht, das von den Wellen hereingetragen und von den kristallinen Felsen gebrochen wurde, erweckte die Höhle den Eindruck, als sei nie zuvor ein menschliches Wesen hier eingedrungen. Die Höhle kam ihm vor wie … wie das älteste Ding, das er je gesehen hatte. Älter als die steilen Felshänge des Grand Canyon, älter als die Dinosaurierknochen, die er im Naturkundemuseum gesehen hatte, älter als alles, das er sich auch nur vorstellen konnte. Ein eiskalter Schauder lief ihm über den Rücken.

»Komm«, sagte er, »hier ist es kalt. Und das Wetter kann jeden Moment umschlagen.«

»In diesem Fall sollten wir uns besser beeilen«, sagte Jennifer und warf ihm die Arme um den Hals. »Das wird unser geheimer Ort sein, für alle Ewigkeit.« Sie presste ihren Körper gegen seinen und küsste seine Lippen. Kevin wollte sich widersetzen, wollte, dass sie beide hier rauskamen, doch als er spürte, wie sie ihre Brüste gegen seinen Brustkorb presste und der dünne Bikinistoff an seiner Haut rieb, löste sich seine angeborene Vorsicht in Luft auf. Er legte die Arme um ihre Hüfte und zog sie noch enger an sich. Er schloss die Augen. Wenn dies nicht der perfekte Moment war, um ihre Flitterwochen zu feiern, welcher dann? Er öffnete sie erst wieder, als Jennifer unvermittelt aufkeuchte und sich von ihm losriss.

»Was ist das?«, sagte sie und starrte über seine Schulter.

Selbst wenn er geglaubt hätte, sie wolle ihn verulken, verriet ihm ihr Gesichtsausdruck, dass sie keinen Witz machte. Hastig wandte er den Kopf um und sah es ebenfalls.

Eingebettet in den glitzernden Felsen, als kämpfte es selbst jetzt noch darum, freizukommen, erkannte er etwas wie Krallen, scharf und ausgestreckt, lang und gebogen. Sie waren deutlich zu erkennen, obwohl sie mit der steinernen Wand verschmolzen waren.

»Das ist ein Fossil«, sagte er, obwohl er es selbst kaum glauben konnte.

»Von was?«

Er beugte sich vor, doch das Wasser schwappte gegen die funkelnden Wände, und es war schwer zu erkennen, ob die Krallen mit etwas unterhalb der Wasserlinie verbunden waren. Oder waren es nicht eher Klauen?

»Du hast mich erwischt«, sagte er. »Bio war noch nie meine Stärke.«

»Was immer es ist, es macht mir Angst«, sagte Jennifer. In ihrer Stimme schwang Unbehagen mit. »Lass uns von hier verschwinden.«

Kevin stimmte ihr aus vollem Herzen zu, aber er wollte Jennifer nicht noch mehr Angst einjagen, als sie ohnehin schon hatte. »Geh du zuerst. Aber für den Fall, dass es wertvoll ist, sollte ich vielleicht ein kleines Stückchen herausmeißeln.«

»Nein!«, schrie Jennifer. »Mach das nicht! Fass es nicht einmal an!«

»Ich habe einen Witz gemacht«, erwiderte er beruhigend. »Ich habe doch gar keinen Meißel dabei.« Er merkte, dass es nicht der richtige Moment für Scherze war. »Lass uns zum Boot zurückschwimmen. Du zuerst, ich komme gleich nach.«

Sie tauchte an ihm vorbei ins dunkle Wasser. Als er sich umdrehte, um ihr nachzusehen, schwappte eine Welle in die Höhle und spülte sie zurück. Prustend schnappte sie hektisch nach Luft. Er hatte in den Sommerferien lange genug als Rettungsschwimmer gearbeitet, um die Anzeichen einer beginnenden Panik zu erkennen.

»Ganz ruhig, Jen«, sagte er. »Schwimm mit derselben Welle hinaus, die gerade hereingekommen ist.«

Es war ihm nicht entgangen, dass die Höhlenöffnung bereits merklich kleiner und das Licht von draußen weniger geworden war. War ein plötzlicher Sturm im Anzug?

»Lass dich vom Wasser hinaustragen«, sagte er, so ruhig er konnte. Sie senkte den Kopf und machte Schwimmbewegungen mit den Armen. Erneut warf er einen Blick auf den funkelnden Felsen mit den gefangenen Krallen. Oder waren es Finger?

Eine weitere Welle, größer als die erste, rollte herein, und er spürte, wie er das Gleichgewicht verlor. Seine Füße versuchten, auf dem Felsvorsprung Halt zu finden, aber der Stein war zu glitschig. Etwas Loses, Klebriges leckte an seiner Wade. Er kippte vornüber ins Wasser und stieß mit dem Schienbein gegen einen Felsvorsprung.

Doch Jennifers Kopf, das konnte er erkennen, hatte gerade den Rand der Höhle erreicht. Ihre Füße wirbelten das Wasser auf, als sie in die Bucht zurückpaddelte.

Gott sei Dank, dachte Kevin. Jetzt wird sie sich wieder beruhigen.

Als er sicher war, dass sie draußen war, stieß er sich ab und folgte ihr, aber er hatte den falschen Zeitpunkt erwischt und eine weitere Woge, kalt und beißend, schlug ihm ins Gesicht. So viel zu seinem eigenen Ratschlag. Er wischte sich das Wasser aus den Augen, und zu seiner Überraschung traf ihn bereits die nächste Welle. Wie schnell hintereinander kamen die denn? Das Wasser stieg, hob ihn in die Höhe, und er spürte, wie er mit dem Kopf gegen das raue nasse Dach der Höhle stieß.

Entspann dich, sagte er sich. Entspann dich einfach, und in ein paar Sekunden bist du hier raus.

Er holte tief Luft und schwamm auf die Öffnung zu. Von Jennifer war nichts mehr zu sehen, aber das Wasser in der Höhle war jetzt aufgewühlt und schien nur noch aus Strudeln zu bestehen, die ihn zur Seite und zurück zogen. Er strengte sich noch mehr an, aber es war wie bei einem dieser Träume, in denen man versucht zu laufen, aber nie irgendwo ankommt. Er kam kein Stück voran. Verdammt – warum habe ich Jennifer überhaupt in dieses bescheuerte Drecksloch schwimmen lassen?

Die Höhlenöffnung war inzwischen nur noch ein schmaler Spalt, und das Wasser stieg weiter an. Er hob eine Hand, um seinen Kopf zu schützen, aber es war bereits zu spät. Das Wasser hob ihn in die Höhe, kräftiger und schneller als zuvor, und sein Kopf schlug heftig auf den zerklüfteten Felsen auf. Selbst in dem kalten dunklen Wasser erkannte er das heraussickernde Blut und wusste, dass er sich die Kopfhaut aufgerissen hatte.

»Kevin!«

Hatte er das wirklich gehört?

»Wo bist du?«

Ich bin hier, dachte er benommen. Ich bin doch hier.

Erneut versuchte er, hinauszuschwimmen, aber das Wasser drängte immer noch herein, schleuderte seinen Kopf erneut gegen den schartigen Felsen, dass es ihm den Atem raubte.

Seine Beine gaben nach, und dann hörte er auf zu treten. Auch die Arme bewegten sich nicht mehr im Wasser.

Lass dich von der Strömung tragen, dachte er undeutlich.

Es war, als würde sich plötzlich ein schwarzer, sehr dicker und sehr warmer Samtvorhang über ihn legen. Sein Kopf schmerzte, als hätte ihn jemand mit einem Hammer geschlagen.

»Kevin!«

Er antwortete, oder zumindest glaubte er, dass er das tat. Sein Mund füllte sich mit eisigem Wasser. Der Vorhang wickelte sich noch enger um ihn. Er hatte das Gefühl, zu fallen und hinabzusinken, eigentlich eine angenehme Empfindung. Das Letzte, das er vor seinem inneren Auge sah, und es brachte ihn zum Lächeln, war er selbst, in seinem geliehenen Smoking, wie er Jennifer mit einem großen, unhandlichen Stück der weiß-gelben Hochzeitstorte fütterte.

Erster Teil

»… und die Wächter blickten herab auf

die Töchter der Menschheit.

Gleich dem Drachen, der niemals schläft,

hielten sie Wache … und Abscheu erfüllte

ihre Herzen.«

Das (verschollene) Buch Henoch, 2–3

(übertragen aus dem Aramäischen), 4QEN f-g

1. Kapitel

»Nächstes Bild, bitte.«

Während das Dia von der Leinwand verschwand und ein anderes an seine Stelle trat, fragte sich Carter Cox, wie viele der Studenten, die in den ordentlichen Reihen des Hörsaals um ihn herum saßen, tatsächlich noch wach waren. Vom beleuchteten Rednerpult aus waren sie unmöglich zu erkennen, aber er wusste, dass sie da oben auf ihren Stühlen kauerten. Das stetige Summen des Diaprojektors erzeugte genau die richtige Menge weißen Rauschens, um sie in den Schlaf fallenzulassen und sogar gelegentliche Schnarcher zu übertönen.

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