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Sie hörte, wie die Tür zum Foyer aufgerissen wurde und anschließend krachend ins Schloss fiel.

»Mach keinen Mist, Carter«, rief sie ins leere Treppenhaus hinein. Sie stand an der offenen Wohnungstür und dachte Und jetzt? Sie bedauerte, dass sie überhaupt etwas gesagt hatte.

Sie schloss die Tür und lehnte den Kopf von innen dagegen. Warum regte sich Carter nur so darüber auf? Ihr kam der Gedanke, dass sie es hier womöglich mit einer klassischen Verdrängungsreaktion zu tun hatte. Vielleicht hatte er die schlechte Nachricht vom morgendlichen Termin in der Praxis noch nicht ganz verdaut, und jetzt bahnten sich die Frustration und die aufgestaute Energie ihren Weg in alle möglichen unpassenden Richtungen … wie zum Beispiel diese.

Sie verschloss alle Schlösser bis auf den Türriegel und ging in die Küche, um das chinesische Essen wegzuräumen. Zumindest hatte sie ihm nichts von der unheimlichsten Sache überhaupt erzählt. Sie könnte schwören, dass der Typ, als er hinter ihr im Foyer gestanden hatte, in der Luft herumgeschnüffelt hatte. Wie ein Hund, der einen neuen Geruch aufnimmt.

Als Carter den Park endlich erreicht hatte, war seine Jagdbeute verschwunden. Er rannte zur anderen Seite des Parks, wich einigen Autos aus und lief in die Richtung weiter, die der Kerl eingeschlagen zu haben schien. Weit vor sich, vielleicht zwei Blocks entfernt, meinte er, etwas Rotes zu erblicken, eine Sekunde bevor ein Bus ihm für den Moment den Blick versperrte.

Er beschleunigte seine Schritte, aber als der Bus weiterfuhr, war der rote Fleck verschwunden. Der Kerl konnte nach links oder rechts abgebogen sein, aber Carter entdeckte in keiner Richtung etwas, das nach ihm aussah. Er rannte geradeaus, und wieder meinte er, den roten Mantel zu erkennen, der gerade beim Obsthändler auf der anderen Straßenseite um die Ecke bog. Aber die Ampel war gegen ihn, und als sie endlich ein Einsehen hatte und er die Straße überqueren konnte, war der Kerl ihm schon wieder entwischt. Aber zumindest wusste er, in welche Richtung er verschwunden war. Carters Atem ging stoßweise, und er wünschte, er hätte nicht ausgerechnet seine abgetragenen Slipper an. Trotzdem rannte er weiter, schlängelte sich tänzelnd durch die anderen Menschen auf dem Gehweg. Nicht lange, und er fand sich in einer schmerzlich vertrauten Ecke wieder. Genau auf der anderen Seite der breiten Straße befand sich der Haupteingang des St. Vincent’s Hospital.

Und nirgends eine Spur von dem roten Mantel.

Mit einer Hand stützte er sich am Straßenschild ab, sah sich um und holte keuchend Luft.

Es war dieselbe Stelle, an der Ezra Metzger ihn nach der Beerdigung abgesetzt hatte. Er stand vor dem Grundstück, auf dem demnächst Villager-Genossenschaftswohnungen errichtet würden, wie die Plakatwand verkündete. Der Tag mochte vielleicht nicht mehr fern sein, aber im Moment war es ein dunkler und dreckiger Schandfleck. Ein verbogener, durch eine Kette gesicherter Zaun umgab das leere, verlassene Gebäude aus schäbigem braunem Klinker. Carter blickte auf die brüchigen Stufen, die zerbrochenen, mit Sperrholz vernagelten Fenster, die verzierte, aber trostlose Fassade aus der vorletzten Jahrhundertwende. Der Haupteingang war kreuz und quer mit schweren Bohlen vernagelt und mit einem Warnschild

BETRETEN VERBOTEN

versehen. Darüber hing an einer einzigen Schraube ein verrostetes Metallschild. Obwohl es mit Graffiti bedeckt war, konnte Carter die Worte MEDIZINISCHES ZUBEHÖR erkennen. Interessanter jedoch war die Inschrift hinter dem halb abgefallenen Schild, die in den Stein der ursprünglichen Fassade eingemeißelt war:

NEW YO K SANATOR M FÜR TUBER UL SE

UND INFEKT NSKRAN HEIT N.

Man musste nicht regelmäßig Das Glücksrad sehen, um den Namen zu vervollständigen: New York Sanatorium für Tuberkulose und Infektionskrankheiten. Unter den eingemeißelten Buchstaben stand das Gründungsjahr: 1899.

Auf Carter wirkte das Gebäude wie aus einem Roman von Dickens. Wie lange es wohl in Betrieb gewesen war, ehe man es dem endgültigen Verfall preisgegeben hatte? Die Reinkarnation als Lager für medizinisches Zubehör jedenfalls schien auch schon eine ganze Weile zurückzuliegen. In Manhattan gab es nicht mehr viele Gebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert, und auch dieses hier würde bald dran glauben müssen. Normalerweise tat es Carter leid, diese alten Häuser verschwinden zu sehen, zu sehen, wie die Geschichte der Stadt ausgemerzt und durch seelenlose gläserne Wolkenkratzer und Wohntürme für Yuppies verdrängt wurde. Dieses spezielle Gebäude jedoch strahlte etwas aus, von dem er bezweifelte, dass es jemand vermissen würde. Selbst wenn er nicht gewusst hätte, welchem Zweck es ursprünglich einmal gedient hatte, hätte er es öde und entmutigend gefunden. Unheilvoll, wenn er ganz ehrlich war.

Aber es gab kein Zeichen von dem Mann in dem roten Mantel, weder hier noch sonst wo. Entweder hatte Carter ihn verloren, oder der Kerl hatte ihn bewusst abgeschüttelt.

Ein kalter Wind pfiff die Straße entlang, und Carter zitterte. Ein Krankenwagen mit rotierenden Lichtern bog in der Ferne um die Ecke und näherte sich dem Eingang zur Notaufnahme.

Er überquerte die Straße und dachte an das chinesische Essen, das Beth mitgebracht hatte. Die Aussicht darauf war verdammt verlockend. Er blieb noch einmal stehen und blickte zurück zu dem verlassenen Gebäude mit den verbarrikadierten Fenstern. Die massiven Wände sahen aus, als würden sie meditieren. Plötzlich hatte er das unerklärliche Gefühl, dass das Haus selbst, heruntergekommen, unbewohnt und kurz vorm Zusammenfallen, seinen Blick erwiderte. Verrückt, er wusste es, aber so war es. Er wandte sich ab und ging davon. Ein Zitat, möglicherweise von Nietzsche, schoss ihm durch den Kopf. Wie ging es noch genau? Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

Wie wahr.

23. Kapitel

»Und Henoch sah, eingereiht inmitten der Engel, jene, die bekannt waren als die Wächter. Ihr Haar glich gehämmertem Gold, ihre Gewänder … Ihre Augen, welche sie niemals schlossen, waren tief wie Brunnen in der Wüste. Sie wachten über die … der Menschen und lehrten sie viele Dinge.«

Ezra war erfreut, wie sich die Stücke der Schriftrolle zusammenfügten. Es war eine mühsame Arbeit, aber er hatte gerade einen weiteren zerfledderten Schnipsel gefunden, der sich genau an der richtigen Stelle ordentlich in den Text einzufügen schien, als er ein Klopfen an der nächsten Tür, der Schlafzimmertür, hörte.

Verdammt. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um gestört zu werden.

Er ignorierte das Klopfen, aber es ertönte erneut, und dieses Mal hörte er Gertrude, die mit leiser Stimme aus dem Korridor rief: »Ezra, da ist ein Anruf für dich.«

Ein Anruf? Ezra hatte nicht einmal eine eigene Telefonnummer. Wer sollte ihn auch anrufen? Und was Freunde anging … Dann dämmerte es ihm, wer es sein könnte, und ohne auch nur die Latexhandschuhe auszuziehen, sprang er von seinem Zeichentisch auf, rannte ins nächste Zimmer und riss die Tür auf.

»Es ist ein gewisser Carter«, sagte Gertrude und hielt ihm das schnurlose Telefon hin.

»Hier ist Ezra«, sagte er und scheuchte die neugierige Gertrude fort. »Carter Cox?«

»Ja.«

Er klang nicht gerade freudig. Trotz der einsilbigen Antwort spürte Ezra, dass Carter ihn nur widerwillig anrief.

»Ich hatte gehofft, dass Sie anrufen«, sagte Ezra, um ihn weiter zu ermutigen.

»Und ich hatte gehofft, ich bräuchte es nicht.«

»Aber jetzt haben Sie es getan, und das ist alles, was zählt. Sie haben also über das nachgedacht, was ich im Wagen gesagt habe? Das ist gut. Das ist ein Anfang.«

Carter räusperte sich und sagte: »Ja. Nun ja, vielleicht.«

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