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38. Kapitel

»Ich bin froh, dass du die Party früher verlassen hast«, sagte Abbie, während sie den Wagen auf die Ausfahrt nach Hudson lenkte. »Je eher wir heute Abend ins Bett kommen, desto früher können wir uns morgen an die Arbeit machen.«

Beth starrte aus dem Fenster auf die schwarzen Bäume und Büsche, die jetzt die zweispurige Straße säumten. Sie hatte Mühe, sich auf das zu konzentrieren, was ihre Freundin sagte. Egal, wie sehr sie dagegen ankämpfte, ihre Gedanken kehrten immer wieder zu denselben Punkten zurück. Arius’ Anblick, als er bei der Party auftauchte, den kleinen Blutfleck, den sie selbst jetzt in ihrer Unterhose zu spüren meinte. Wenn sie an die letzten paar Wochen zurückdachte, sah sie nur eine immer höher werdende Flut aus schlechten Nachrichten, Problemen und sogar Tod. Einen Kondolenzbrief an Joes Mutter zu schreiben, gehörte zu den schmerzhaftesten Aufgaben, vor die sie je gestellt worden war.

»Wir werden natürlich auch jede Menge Spaß haben«, sagte Abbie. »In der richtigen Gesellschaft kann es total witzig sein, Vorhänge aufzuhängen.«

»Ich bin sicher, dass es lustig wird«, sagte Beth pflichtschuldig.

»Für diese Vorstellung bekommst du aber nicht gerade einen Oscar«, witzelte Abbie.

Lächelnd wandte Beth sich ihrer Freundin zu. »Tut mir leid, aber die Party hat mich völlig geschafft. Ich muss nur mal eine Nacht richtig gut schlafen. Morgen früh kann ich es vermutlich kaum noch abwarten, loszulegen.«

Abbie tätschelte Beths Handrücken. »Schlaf ruhig, so lange du willst. Selbst Ben, der das Ganze hasst, musste zugeben, dass er da oben wie ein Baby schläft.« Sie wollte gerade hinzufügen, dass Beth aussah, als könnte sie eine ordentliche Portion Schlaf vertragen, aber dann überlegte sie es sich anders. Wer hörte so etwas schon gerne?

Obwohl sie inzwischen ein Dutzend Mal beim Haus gewesen war, war Abbie daran gewöhnt, dass Ben am Steuer oder neben ihr saß, so dass sie nie groß auf die Richtung oder Wegmarkierungen geachtet hatte. Jetzt war es zudem schon dunkel, und sie musste sich konzentrieren und an jeder Kreuzung oder Abbiegung zweimal überlegen. Musste sie hier scharf links abbiegen oder die andere Straße nach links nehmen? Lag die alte Gießerei immer rechts von ihnen, oder waren sie auf der Anliegerstraße quer über das Gelände gefahren? Hin und wieder entdeckte sie etwas Bekanntes, den vertrauten Schriftzug von Quickie Mart auf einem trostlosen Neonschild oder die Tankstelle mit diesen altmodischen Pumpen, wo sie ein paarmal auf dem Rückweg in die Stadt getankt hatten. Dann wusste sie, dass sie auf dem richtigen Weg war. Aber es war nicht leicht, und die Dunkelheit, die sie von allen Seiten umgab, war tiefer und abweisender, als sie es von den vorigen Fahrten in Erinnerung hatte. Im Grunde ihres Herzens musste sie sich eingestehen, dass sie, trotz ihrer Tagträumereien vom einsamen Landleben, nicht oft allein herkommen würde. Zumindest nicht abends.

Als sie schließlich die alte Bahnlinie kreuzten, deren Warnschild von Rost und Einschusslöchern arg in Mitleidenschaft gezogen war, wusste sie, dass sie es fast geschafft hatten. Vorsichtig nahm sie die lange, beeindruckende Kurve eines Hügels und wich dem Schlagloch aus, von dem sie wusste, dass es kommen würde. Sie bremste und schaltete das Fernlicht an, um die Auffahrt zu ihrem Haus zu finden. Sie wurde teilweise von einer riesigen alten Eiche verdeckt, die wie ein gigantischer Wachposten am Anfang des schmalen Hohlwegs stand.

»Mein nächstes Projekt wird irgendeine Lampe sein, damit ich das Haus auch im Dunkeln finde«, sagte Abbie, als sie mit dem Wagen in die Auffahrt einbog.

»Was ist das?«, sagte Beth, gerade als Abbie selbst es erblickte. Ein orangefarbener Straßenkegel stand auf der rechten Seite der Auffahrt. Sie erwischte ihn mit der Stoßstange und stieß ihn in einen tiefen Graben, den sie erst jetzt bemerkte.

»Was ist hier denn los?«, sagte Abbie, riss hektisch den Wagen nach links und hielt an.

»Sieht nach Straßenbauarbeiten aus«, sagte Beth und spähte die Auffahrt hinunter. Der Graben zog sich den ganzen Hügel hinunter und hörte kurz vor dem Haus auf.

»Du hast recht«, sagte Abbie, »das muss die Wasserleitung sein. Sie wird gerade überall hier in der Gegend erneuert.«

»Haben sie euch nicht Bescheid gegeben, dass sie jetzt damit anfangen?«

»Wer liest schon all die Zettel, die man ständig bekommt?« Abbie startete den Wagen erneut. »Ich hoffe nur, dass sie uns nicht das Wasser abgestellt haben.«

Sie fuhren den Rest des Weges hinunter bis zum Haus. Tiefschwarz lag es in der Dunkelheit und war vor den ebenso schwarzen Hügeln dahinter fast nicht zu erkennen.

Abbie bog in die halbrunde Auffahrt ein. Die Reifen knirschten auf dem losen Kies, dann hielten sie neben einem Stapel Baumaterial und einer zusammengeklappten Leiter an. Die Balken und Steine wurden für eine zusätzliche Terrasse an der Rückseite des Hauses gebraucht. Abbie wollte schon die Scheinwerfer ausschalten, überlegte es sich dann aber anders.

»Ich lasse sie an, bis ich das Haus aufgeschlossen habe«, sagte sie, und Beth nickte.

»Können wir nicht die Vorhänge bis morgen im Auto lassen?«, fragte Beth, und dieses Mal stimmte Abbie zu. Keine von ihnen wollte es aussprechen, aber beide wollten nichts anderes, als so schnell wie möglich ins Haus kommen, die Tür hinter sich absperren und jede Lampe im Haus einschalten.

Abbie stieg aus, ließ die Fahrertür offen, obwohl ein leiser Warnton einsetzte, und eilte die Holztreppe empor. Auf der Vordertreppe suchte sie zwischen ihren Schlüsseln, bis sie den richtigen gefunden hatte. Anschließend musste sie ihn noch eine Weile drehen und rütteln, bis das Schloss endlich nachgab und die Tür sich öffnen ließ. Auf der Stelle griff sie nach innen und schaltete die Lampen im Eingang und auf der Terrasse an, ehe sie zum Auto zurückkehrte.

Beth zerrte ihre Taschen von der Rückbank. Gemeinsam trugen sie das Gepäck die Treppe hinauf und ließen es im Foyer fallen. Im Haus war es fast so kalt wie draußen in der Nacht.

»Ich stelle die Heizung an«, sagte Abbie. »Die sollte trotz allem funktionieren. Du kannst ja deine Sachen schon ins Gästezimmer bringen.«

Beth manövrierte sich samt Tasche um die engen Windungen der Wendeltreppe, was nicht ganz einfach war. Das Haus war als einstöckiges Gebäude errichtet worden, und erst einer der späteren Eigentümer hatte den Dachboden ausbauen lassen, so dass die Treppe irgendwie in den bestehenden Grundriss hineingequetscht werden musste. Das Gästeschlafzimmer mit dem angrenzenden Badezimmer und einem eigenen Wohnraum nahm das gesamte Dachgeschoss ein.

Erschöpft warf Beth ihre Tasche auf das mit einem Quilt bedeckte Bett. Sie hatte den Lichtschalter noch nicht gefunden, so dass es im Zimmer immer noch dunkel war. Sie konnte die nackten Zweige in der aufgegebenen Apfelplantage sehen, und dahinter die in Silber getauchten Umrisse der baufälligen Scheune. Ben hatte Witze darüber gemacht, dass sie ihre Nachbarn zu einem Scheunenfeuer einladen könnten, aber Abbie hatte gesagt, dass ihr die Scheune gefiel und dass sie dem Ort Charakter verlieh. In diesem Moment verstärkte sie nur Beths Gefühl, sich am Ende der Welt zu befinden. Wenn die Vorhänge schon hängen würden, hätte sie sie mit einem Ruck zugezogen.

»Sieht so aus, als könntest du doch ein Bad nehmen«, rief Abbie vom Fuß der Treppe. »Der Boiler ist an, und das Wasser läuft.«

»Danke«, rief Beth zurück. Das Haus war so klein, dass man kaum die Stimme heben musste, um verstanden zu werden. »Ich denke, das werde ich auch tun.«

»Ich sehe dich dann morgen früh«, sagte Abbie. »Wer als Erster wach ist, macht die Kaffeemaschine an.«

Beth fand den Lichtschalter und schaltete ihn ein. Dann ging sie zum Fenster, das ein paar Zentimeter offen stand. Sie wollte es gerade schließen, als sie innehielt. Die Nachtluft war zwar kalt, aber auch so frisch und duftend, dass sie den Geruch noch einen Moment genießen musste. Es erinnerte sie daran, wie es nach einem Regenschauer im Wald gerochen hatte, als sie eine Reise durch die Cotswolds unternommen hatte. Sie würde das Fenster einen Spalt offen lassen, um zur Abwechslung einmal bei frischer Luft und ohne Stadtlärm zu schlafen. Zu müde, um ihre Tasche ganz auszupacken, nahm sie nur ihr Nachthemd, den Bademantel und die Toilettenartikel heraus und brachte alles ins Badezimmer, das Abbie und Ben inzwischen hatten renovieren lassen. Jetzt war es mit einem Medizinschränkchen aus geätztem Glas, einem Porzellanwaschbecken mit zwei vergoldeten Wasserhähnen und einer großen hohen Badewanne auf klauenartigen Füßen ausgestattet. Als Beth das heiße Wasser aufdrehte, fiel ihr unglücklicherweise wieder ein, was sie schon beim letzten Mal gestört hatte, als Carter und sie für ein Wochenende hier gewesen waren: Die Badewanne stand direkt vor einem großen Fenster, und es gab weder Vorhänge noch Jalousien.

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