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34. Kapitel

Ein paar Sekunden lang saß Carter wie gelähmt auf seinem Stuhl. Der Klang der Stimme hallte noch in seinen Ohren nach. Ich muss gehen. Konnte das die Stimme eines Engels gewesen sein? Sie war weich und tief gewesen, mit einer leicht fremdartigen Betonung, einer jener Kleinigkeiten, an denen man merkte, dass jemand kein Muttersprachler war.

Und was hatte Joe gerufen, kurz bevor die Verbindung unterbrochen wurde? Er solle Arius nicht in seine Nähe gelangen lassen, das hatte er verstanden. Aber danach? Dass er Arius nicht in Beths Nähe lassen sollte? War es das? Und gab es außer den offensichtlichen noch andere Gründe für diese dringende Warnung?

Er schnappte sich seine Lederjacke von der Lehne seines Laborstuhls, zog sie an und rannte zur Tür. Mit einem Fußtritt schloss er die Tür hinter sich und tippte verzweifelt die Nummer des Krankenhauses in sein Handy, während er die Treppe zum Erdgeschoss hinaufstürmte.

»Village Pizza«, sagte eine Stimme vor der Unruhe einer hektischen Küche, und Carter unterbrach die Verbindung. Er blieb auf der Treppe stehen und wählte noch einmal sorgfältiger.

Dieses Mal war es die richtige Nummer, doch als er das Schwesternzimmer auf Joes Station verlangte, wurde er in die Warteschleife gelegt. Hätte er nach dem Sicherheitsoffizier fragen sollen? Sollte er auflegen und neu wählen?

Er stieß die Haupttür auf und hielt auf der Straße Ausschau nach einem Taxi.

Oder sollte er den Detective anrufen und ihm sagen, er solle auf der Stelle ins St. Vincent’s kommen, wenn er den Kerl fassen wollte, der den Transvestiten abgefackelt hatte? Aber welche Warnung sollte er ihm mit auf den Weg geben? Dass er besser eine Bibel mitnähme oder etwas Weihwasser? Würden diese Dinge ihm überhaupt etwas nützen, wenn er sie mitbrächte?

Würden sie irgendjemandem etwas nützen?

Die Telefonistin vom Krankenhaus meldete sich wieder. Sie hörte sich an, als habe sie Mühe, unbeeindruckt zu klingen. »Tut mir leid, aber im Schwesternzimmer kann im Moment niemand Ihren Anruf entgegennehmen. Bitte rufen Sie später noch einmal an.«

Ehe sie auflegen konnte, platzte Carter heraus: »Aber das ist ein Notfall!«

»Sie müssen später noch einmal anrufen«, wiederholte sie, und dieses Mal hörte Carter etwas in ihrer Stimme, etwas, das sie nicht laut aussprach.

Er fürchtete sich vor dem, was es sein könnte.

Ein Taxi bog um die Ecke und hielt an, um eine ältere Frau aussteigen zu lassen. Carter stürzte sich darauf und schnitt zwei Studenten, die mit schweren Reisetaschen zum Bordstein schlurften, den Weg ab.

»Hey, Mann! Wir haben es zuerst gesehen«, rief einer.

»Er gehört zur Fakultät«, hörte Carter den anderen sagen. »Professor Bones.«

»Na und?«, erwiderte der Erste, aber Carter war bereits im Wagen, knallte die Tür zu und sagte dem Fahrer, er solle zum St. Vincent’s fahren. Er wählte die Nummer von Ezras Wohnung, und diese Frau, die ihnen den Lunch serviert hatte, Gertrude oder so ähnlich, meldete sich mit gedämpfter Stimme.

Als er seinen Namen nannte und Ezra verlangte, schien sie unsicher zu sein, was sie tun sollte.

»Es ist äußerst wichtig«, sagte Carter. »Ich muss ihn sprechen. Sofort.«

Zentimeterweise schob sich das Taxi durch den Verkehr im West Village.

Schließlich kam Ezra ans Telefon.

»Ich bin auf dem Weg ins Krankenhaus«, sagte Carter. »Ich glaube, Joe ist etwas zugestoßen.«

»Was?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Carter und wollte selbst jetzt noch nicht an die furchtbaren Möglichkeiten denken. »Aber es kann sein, dass er Besuch hatte. Von Arius.«

Er hörte, wie Ezra den Atem anhielt.

»Sobald ich dort fertig bin«, sagte Carter, »komme ich zu dir.«

»Hierher?«

»Du wirst mir diese ganze verdammte Schriftrolle zeigen, alles, was du bereits zusammengesetzt hast, und dann werden wir herausfinden, was wir zu tun haben.«

Carter legte auf und stopfte ein paar Dollarnoten in den Metallbehälter in der Zwischenwand aus Plexiglas. »Das sind zwanzig Kröten«, sagte er. »Beeilen Sie sich.«

Der Fahrer griff mit der Hand nach hinten, fischte die Geldnoten aus der Dose und gab Gas. Er jagte das Taxi über drei gelbe und eine rote Ampel, aber als er zum Block kam, in dem das Krankenhaus lag, war der Eingang von drei Feuerwehrwagen und einem halben Dutzend Polizeiwagen mit kreisenden roten Lichtern versperrt. Jetzt wusste Carter, dass er mit dem Schlimmsten zu rechnen hatte.

»Lassen Sie mich auf der anderen Straßenseite raus.«

Das Taxi wendete auf den verstopften Fahrbahnen und hielt vor dem Maschendrahtzaun an, der das abbruchreife Lager für medizinisches Zubehör umgab. Carter stieg aus, spurtete los und schlängelte sich durch das Durcheinander aus Polizeiautos und Feuerwehrwagen. Über die quäkenden Funkgeräte und Walkie-Talkies hinweg schnappte er hier und da ein paar Brocken auf. Er hörte »Das Feuer ist unter Kontrolle« und »Der größte Schaden entstand im sechsten Stock.« Joes Etage. Bis jetzt hatte er nichts über Todesopfer gehört.

Die beiden Seitentüren waren weit geöffnet, aber gedrängt voll mit Notfallpersonal, das rein und raus eilte. Carter benutzte stattdessen die Drehtür, trat ein und schob sie an.

Kaum hatte er das sich drehende Abteil betreten, da hatte er das Gefühl, direkt nach einem Sommerregen in einen dichten Wald gestolpert zu sein. Es war derselbe Geruch, der ihm auch in seiner eigenen Wohnung aufgefallen war, in jener Nacht, als er Beth nahezu nackt im Bett ausgestreckt gefunden hatte und das Fenster zur Feuerleiter geöffnet gewesen war.

Kurz darauf stand er mitten im Tumult in der Krankenhauslobby. Die Duftwolke, die ihn umhüllt hatte, hatte er genauso unvermittelt hinter sich gelassen, wie er hineingeraten war. Feuerwehrmänner und Polizisten setzten eine Art Notfallplan um, und Carter begriff rasch, dass es sich um eine Evakuierung handelte. Eine Gruppe nervöser Besucher wurde aus einem Fahrstuhl und zu den Ausgängen geführt. Ein Polizist rief: »Hey, Sie da!« und meinte Carter damit. »Das Krankenhaus ist geschlossen.«

Carter nickte und machte kehrt, doch anstatt durch die Drehtür wieder hinauszugehen, verschwand er geduckt in einem kurzen Korridor, von dem er wusste, dass er zum Treppenhaus führte. Die Tür stand offen, und über sich hörte Carter die quietschenden Gummistiefel der Feuerwehrmänner. Er erklomm die Treppe, zwei Stufen auf einmal nehmend, und stieß auf dem dritten Absatz auf einen Trupp Feuerwehrleute.

»Ich bin Arzt, ich habe gerade den Anruf bekommen«, sagte er, während er sich zwischen ihnen hindurchdrängte. »Sechster Stock, richtig?«

»Stimmt«, sagte einer von ihnen, doch Carter war bereits am nächsten Treppenabsatz und dann beim übernächsten.

Im sechsten Stock blieb er stehen und beugte sich vor, um wieder zu Atem zu kommen und sich gegen das zu wappnen, was er vorfinden würde. Der Brandgeruch war stärker geworden, je höher er gekommen war, so dass es für ihn außer Frage stand, dass es eine Explosion gegeben hatte.

Wie die Explosion in seinem Labor.

Die Tür stand offen und war festgehakt, und von der anderen Seite hörte Carter einen ungeheuren Krach. Der Boden glänzte vom Wasser, das, schwarz vor Ruß und Asche, immer noch ins Treppenhaus lief und die Stufen hinuntertropfte. Er trat über ein Rinnsal hinweg und in den breiten Korridor des sechsten Stocks.

Hier herrschte ein heilloses Chaos. Feuerwehrmänner und Polizisten halfen dem Pflegepersonal dabei, die verbliebenen Patienten aus dem zerstörten Bereich zu holen. Vorsichtig wurden die Kranken in ihren Betten aus den Zimmern und durch die Trümmer gerollt. Carter umrundete das verlassene Schwesternzimmer und ging in die Richtung von Joes Zimmer. Noch ehe er sein Ziel erreicht hatte, sah er, dass es sich dabei um das Epizentrum der Zerstörung handelte. Die Tür fehlte völlig, ebenso ein Teil der Wand. Das Fenster gegenüber der Tür war herausgedrückt worden, und ein starker Luftzug sorgte dafür, dass permanent eine Aschewolke in der Luft herumwirbelte. Angehörige der Rettungsmannschaft liefen im Zimmer herum, hielten sich jedoch sorgsam von einem geschwärzten Haufen fern, der in der Nähe der Stelle lag, wo einmal die Tür gewesen war. Carter drehte sich der Magen um.

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