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Mit bebenden Fingern tastete Russo das Innere ab und umklammerte schließlich das hölzerne Kruzifix, das er darin verwahrte. Er zog es heraus und streckte es Arius entgegen. Sein verbrannter Arm zitterte.

»Weißt du … was das ist?«, stieß Russo hervor. »Jesus Christus … unser Retter.«

Gelangweilt griff Arius danach und nahm ihm das Kreuz fort. Dann lass dich von ihm retten. Er wollte es gerade wegwerfen, doch dann, als hätte er es sich anders überlegt, schob er es stattdessen in die Tasche seines Mantels.

Unter dem Plastikzelt sank Russo zurück in sein Kissen. Er konnte an nichts anderes denken und nichts anderes tun, als zu hoffen, dass jemand, irgendjemand, plötzlich ins Zimmer käme.

»Wie viele von euch«, fragte Arius, »wissen von mir?«

Dieses Mal hatte Russo ihn eindeutig sprechen hören. Die Worte waren in der Luft, nicht in seinem Kopf. Und so entsetzt, wie er war, empfand er die Stimme, die Stimme dieses gefallenen Engels, als klangvoll, beinahe tröstend.

»Nicht viele.«

Arius nickte nachdenklich.

Russo wagte zu fragen: »Aber warum … bist du hier?« War es alles nur ein Versehen, vielleicht das entsetzlichste Missgeschick, das der Menschheit je zugestoßen war?

Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Arius: »Alles geschieht zu einem bestimmten Zweck. Vielleicht war es deine Aufgabe, mich zu befreien.«

Diese Vorstellung war fast zu grauenhaft für Russo, um auch nur darüber nachzusinnen. Der Judas des einundzwanzigsten Jahrhunderts – sollte das seine Bestimmung sein?

»Meine ist es vielleicht, mich zu vermehren.«

Russo musste einen Moment nachdenken, um das Wort zu verstehen. Vermehren? Er musste es falsch verstanden haben. Unter dem Zelt, mit der summenden Sauerstoffpumpe und dem in seinen Ohren rauschenden Blut, war es schwer, sich wirklich sicher zu sein. Außerdem war es immer noch möglich, dass nichts von dem wirklich geschah, oder etwa nicht? Dass das alles nur ein weiterer furchterregender Traum war, schlimmer noch als die Träume vom Feuer und dem Sturz aus dem Himmel.

»Aber wie?«, murmelte Russo. »Du hast keine Freunde auf der Welt.«

Arius schien darüber nachzudenken, dann tat er es mit einem Achselzucken ab. »Dann werde ich sie erschaffen.« Er beugte sich näher. »Nach meinem Bild.«

Russos Gedanken überschlugen sich. Was könnte er damit gemeint haben? Deutete er damit an, wer er glaubte zu sein?

Und mir schwebt bereits eine … Gefährtin vor, sagte die Stimme in seinem Kopf erneut. Es schien, als sei diese Information so vertraulich, dass sie nicht laut ausgesprochen werden durfte.

Der Engel lächelte, doch seine Lippen bewegten sich nicht. Die Zähne strahlten, wie die eines Wolfes, durch das Plastikzelt. Auf einmal wusste Russo, als sei ihr Bild in seinen Kopf telegraphiert worden, dass es Beth war, die er auserwählt hatte.

Seine Gedanken rasten. Was konnte er tun, um ihn aufzuhalten? Wie konnte er Carter und Beth von seinem Krankenhausbett aus warnen? Auf dem Nachttisch stand ein Telefon, und gerade, als er sich fragte, wie oder ob er es überhaupt benutzen konnte, begann es zu klingeln.

Ungerührt blickte Arius erst auf das Telefon, dann zu Russo. Schließlich nahm er den Hörer ab, hob, ohne ein Wort zu sagen, den Saum des Plastikzelts an und hielt den Hörer, bis Russo imstande war, ihn mit bebenden Fingern selbst zu halten. Obwohl das Plastik nur wenige Zentimeter angehoben war, nahm Russo den Duft von frischem Grün wahr, wie in einem regennassen Wald, der über ihn hinwegwehte.

»Joe? Hier ist Carter.«

Das hatte Russo erwartet.

»Wie geht es dir heute?«

»Bones«, sagte Russo mit kaum hörbarer Stimme, »etwas … Wichtiges passiert hier gerade.« Wie viel würde Arius ihn sagen lassen? Und was würde er tun, wenn Russo versuchte, zu viel auszuplaudern?

»Was? Wäscht die süße Schwester, die du so magst, dich gerade mit dem Schwamm?«

»Nein«, hauchte Russo. »Ich habe … einen Besucher.«

»Ist Beth da? Ich weiß, dass sie dich besuchen wollte.«

»Nein, Bones«, sagte Russo so eindringlich, wie er es schaffte, »es ist derjenige, über den wir sprachen.« Er betete, dass Carter seinen Hinweis verstand.

Und offensichtlich tat er das. Die Stille im Telefonhörer war ohrenbetäubend. Russo konnte sich nur vorstellen, was in Carters Kopf vorging. Glaubte er ihm? Dachte er, er würde phantasieren? Oder sei auf einem Morphintrip?

»Mein Gott«, sagte Carter.

Er glaubte ihm.

»Ich komme«, fügte er leise hinzu. »Kannst du ihn aufhalten? Ich mache mich sofort auf den Weg.«

Arius schob eine Hand unter das Zelt, nahm den Hörer fort und sprach hinein. »Ich muss gehen«, sagte Arius zu Carter.

Russo sah, dass er auflegen wollte, wobei ihm auffiel, dass sein Mittelfinger kürzer zu sein schien als die anderen. Dies war vielleicht die letzte Chance, die er je haben würde, die einzige Gelegenheit, Alarm zu schlagen. »Bones, lass ihn nicht in deine Nähe kommen! Lass ihn nicht in die Nähe von Beth!«

Aber der Hörer lag bereits auf der Gabel.

Wie viel hatte Carter verstanden? Hatte er Russos abgerissenes Krächzen, gedämpft von dem Plastikzelt, überhaupt gehört?

Langsam erhob sich Arius von seinem Stuhl. In dem dunklen Mantel sah er aus wie eine Säule aus schwarzem Rauch, mit einem glühenden Licht an der Spitze.

Russo konnte nicht zulassen, dass er ging, er musste ihn zum Hierbleiben bewegen und, wenn möglich, töten. Aber wie sollte er das anstellen?

Als Arius sich zum Gehen wandte, hob Russo die Beine und schob sie aus dem Bett. Selbst mit all dem Morphin in seinen Adern war der Schmerz unerträglich. Er hatte keine Ahnung, ob seine Beine ihn tragen würden.

Er schob das Plastikzelt beiseite und riss sich die Infusionsschläuche aus den Armen. Jetzt konnte er zum ersten Mal seit jener entsetzlichen Nacht Arius’ Gesicht erkennen. Die perfekten Züge, wie aus makellosem Marmor gemeißelt, die Mähne aus dichtem schimmerndem Haar, die Augen, die ohne zu blinzeln hinter dem bernsteinfarbenen Glas schimmerten.

Russo machte einen Schritt auf ihn zu. Seine Beine zitterten wie die eines neugeborenen Fohlens, und er streckte die verbrannten Arme aus.

Arius trat zurück, und Russo schwankte auf ihn zu. »Ich werde nicht zulassen … dass du ihnen wehtust«, flüsterte er.

Arius lächelte freundlich und breitete seine Arme aus. Russo stürzte sich auf ihn, doch er stolperte und fand sich schließlich in der Umarmung des Engels wieder.

Und ich werde dich nicht leiden lassen.

Einen Moment lang fühlte Russo sich seltsam getröstet. Leicht wie eine Feder hing sein Körper in den Armen des Engels. Es war, als würde er schwerelos in einer Gartenlaube gewiegt.

Doch dann spürte er noch etwas. Ein Funken schien sich in seinem Inneren zu entzünden, tief in seinen Eingeweiden, und der Schmerz war größer als alles, was er bislang erlebt hatte. Zu dem Geruch des Waldes, dem Duft feuchtglänzender Blätter und regennasser Erde, gesellte sich der beißende Geruch von Rauch, von trockenen Spänen, die Feuer fingen. Entsetzt sah Russo Rauch vor seinem Gesicht aufsteigen … Rauch, der aus seinem eigenen Mund und seiner Nase drang. Rauch, der von einem Feuer herrührte, das seinen Körper spürbar von innen verzehrte.

Arius trat beiseite und ließ ihn fallen. Ein Rauchmelder löste Alarm aus und schrillte immer wieder in dem geschlossenen Raum.

Russo lag auf dem Boden. Seine Haut kräuselte sich vom Feuer, das in seinen Adern brannte, und er beobachtete, wie Arius nach dem Türknauf griff. Die Sprinkleranlage ging los und benetzte seine deformierten Glieder mit lauwarmem Wasser. Seine Haut zischte.

Arius ging hinaus und schloss die Tür. Russo sackte zu einem Haufen zusammen und spürte, wie seine Haut Blasen warf, bis schließlich Flammen darunter hervorbrachen. Er versuchte, ein Gebet zu sprechen, aber ehe er auch nur ein Wort sagen konnte, hatte das Feuer den offenen Sauerstofftank gefunden, der immer noch zischend neben dem Bett stand. Der ganze Raum explodierte in einem grellen Ball aus Hitze und Licht. Für Russo wurde es wohlige und ewige Nacht.

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