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»Gehen Sie schon«, sagte er. »Mein Wagen steht draußen, der schwarze Bentley. Sagen Sie Jack, dass er Sie hinbringen soll, wo immer Sie wollen, und dann hierher zurückkommen soll.«

Nie zuvor hatte Beth Hoyt lieber gemocht als in diesem Moment. Obwohl sie wusste, dass es wahrscheinlich eine weitere dumme Idee war, hauchte sie ihm spontan einen flüchtigen Kuss auf die Wange, bevor sie sich zum Gehen wandte.

»Ehe Sie gehen, würde ich Ihnen gerne noch eine Frage stellen. Da ich ja angeblich darüber nachdenke, es zu kaufen«, sagte er und deutete auf die Zeichnung, »was sehe ich mir da eigentlich an?«

Beth musste sich noch einmal umwenden und drehte die Zeichnung richtig hin. Und erst jetzt sah sie, was sie da aus der Schublade gezogen hatte.

Es war ein Stich aus dem neunzehnten Jahrhundert und zeigte einen gefallenen Engel. Er hatte schwarze Fledermausschwingen und stürzte durch den Nachthimmel, einer Bank aus aufgewühlten Wolken entgegen. Der Stich war Teil der französischen Lieferung, genau wie der Greuze und der Fragonard.

»Es ist ein Gustave Doré, aus seiner Reihe von Illustrationen für Das verlorene Paradies«, sagte sie. »Ein gefallener Engel wird aus dem Himmel geworfen.«

Hoyt nickte, anscheinend zufrieden mit der Information.

Beth drehte sich um, und ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken. Es war, als sei der Stich aus einem ganz bestimmten Grund dort gewesen. Als habe er darauf gewartet, dass sie die Schublade öffnete und ihn entdeckte. Nur noch ein Grund mehr, die Galerie so schnell wie möglich zu verlassen. Sie ging zum Fahrstuhl, ihre hohen Absätze klapperten auf dem Parkett. Hoyt sah ihr nach, dann warf er einen beiläufigen Blick auf den Stich, der auf dem Tisch liegen geblieben war.

Selbst für sein ungeübtes Auge war es eine beeindruckende Arbeit. Der Engel mit den Fledermausflügeln stürzte kopfüber, als sei er nicht imstande, seinen Flug zu kontrollieren. Wellenförmiges Licht strahlte von der oberen rechten Ecke des Bildes aus, durchbohrte die turbulenten Wolken und beleuchtete die gekrümmte Erdoberfläche, die weit darunter lag. Es war wesentlich besser als der Kram, den er normalerweise hier zu sehen bekam, alle möglichen Skizzen und Studien, die selten eine zusammenhängende Geschichte erzählten. Wenn er sich nicht so zu Beth hingezogen fühlen würde, hätte er sich diese Sache mit den Alten Meistern wahrscheinlich schon vor Wochen abgeschminkt. Vielleicht hatten seine Freunde ja recht, und er sollte lieber das große bunte moderne Zeug kaufen, bei dem jeder, der es sah, sofort wusste, dass es einen Haufen Geld gekostet hatte.

Hinter sich hörte er das Knacken der Dielenbretter, aber das begleitende Klappern der Absätze fehlte. Als er aufblickte, sah er einen Mann mit blondem Haar und Sonnenbrille, der ihn von der Treppe aus beobachtete. Der Kerl war groß, etwa so groß wie er selbst, und trug einen langen schwarzen Mantel, der Hoyts Ansicht nach aus Kaschmir war. Hoyt war sich ziemlich sicher, dass er den Typ nie zuvor gesehen hatte, und genauso sicher war er sich, dass dies der Kerl war, dem Beth unbedingt aus dem Weg gehen wollte, koste es, was es wolle.

»Falls Sie Beth suchen«, sagte er und hoffte, ihr ein wenig mehr Zeit zur Flucht zu verschaffen, »sie ist gleich wieder zurück.«

Der Eindringling lächelte, und Hoyt musste feststellen, dass seine Lippen ungewöhnlich voll waren und die Zähne dahinter fast unnatürlich strahlten.

»Mein Name ist Bradley Hoyt«, sagte er. »Und Sie sind …?«

»Arius«, sagte der Mann beim Näherkommen. Die Deckenlampen schienen sein Haar in poliertes Gold zu verwandeln, und Hoyt ertappte sich dabei, dass er überlegte, wo der Typ hinging, um solche Strähnchen zu bekommen.

»Sie hat mir gerade ein paar neue Sachen gezeigt«, fuhr Hoyt fort und deutete auf den Doré.

Arius kam noch näher, wobei er nahezu geräuschlos über den Boden glitt.

Und was für ein Aftershave benutzt dieser Typ bloß, fragte sich Hoyt. Es erinnerte ihn an seine Sommer in Maine, als er noch ein kleiner Junge war.

Ohne die Sonnenbrille abzunehmen, blickte Arius abschätzig auf den Stich. Hoyt hatte den Eindruck, dass er wusste, worum es sich handelte, ohne dass jemand es ihm hätte erklären müssen. Er hatte die Ausstrahlung eines Menschen, der mit dieser absoluten Überlegenheit aufgewachsen war.

»Die Flügel«, sagte Arius und deutete auf den Engel im Bild, »sind viel voller als hier.«

Sein Mittelfinger, stellte Hoyt fest, war nur ein Stumpf und endete über dem ersten Knöchel.

»Und sie kommt nicht zurück«, fügte Arius hinzu und hob endlich seinen Blick.

Hoyt wusste nicht, was er sagen sollte. Irgendwie wusste er genau, dass es keinen Zweck hatte, diesen Typ anzulügen. Und obwohl Arius’ Augen hinter den bernsteinfarbenen Gläsern verborgen waren, hatte Hoyt nicht die geringste Lust, den Blick daraus auf sich zu spüren.

»Vielleicht sollten wir beide zurück zur Party gehen«, schlug er vor, aber Arius schien nicht gewillt zu sein. Hoyt war sich nicht sicher, ob er ihn unbeaufsichtigt mit diesem wertvollen Kunstwerk allein lassen sollte. Wenn irgendetwas damit geschah, könnte Beth dafür verantwortlich gemacht werden.

»Ob der Champagner wohl schon ausgegangen ist?«, versuchte Hoyt es erneut. Dieses Mal nahm Arius nur eine Ecke des Stichs zwischen die Finger und begann das Papier zu reiben. Obwohl Hoyt niemals behaupten würde, ein Experte in diesen Dingen zu sein, war er sich ziemlich sicher, dass es keine gute Idee war, an dem alten Stich zu reiben.

»Ich an Ihrer Stelle würde das nicht tun.«

»Warum belästigen Sie Beth?«, fragte Arius leise.

»Ich und Beth belästigen?«, sagte Hoyt. »Ich glaube, da bringen Sie was durcheinander, mein Freund.« Jetzt verstand Hoyt, warum Beth vor diesem Kerl davonlief. Er hatte eindeutig etwas Gruseliges an sich.

»Halten Sie sich von ihr fern. Sie gehört Ihnen nicht.«

»Und wer sind Sie, bitte schön?«, sagte Hoyt ungläubig. »Ihr Eheberater?« Er war entgeistert. Der Kerl war nicht nur unheimlich, er war total verrückt. Beth sollte eine einstweilige Verfügung beantragen.

Plötzlich wehte ein neues Aroma durch den Raum, etwas, das sich mit dem Duft eines regennasses Waldes vermischte … der Geruch von Rauch.

Hoyt blickte nach unten. Ein schwarzer Fleck hatte sich in der Ecke des Doré gebildet, wo das Papier versengt war.

»Herrgott, was tun Sie da!«, rief Hoyt und riss ihm den Stich aus der Hand. Aber plötzlich war da mehr als ein Brandfleck, eine helle Flamme schoss über das Bild wie eine Schlange auf der Jagd nach Beute. Jetzt schnappte sie nach Hoyts Arm und Hand. Er versuchte, den brennenden Stich fallen zu lassen, aber er klebte an seiner Hand wie Fliegenpapier. Ungerührt sah Arius zu, wie Hoyt zurücktaumelte und sich verzweifelt bemühte, das brennende Papier loszuwerden.

»Nehmen Sie es weg!«, schrie Hoyt, während der Rauchmelder und die Sprinkleranlage angingen. Als hätten sie einen eigenen Willen, krochen die Flammen an seinem Arm empor, über seine Schulter und begannen, an seinem Gesicht und den Haaren zu lecken.

Arius wandte sich zum Gehen.

»Nehmen Sie es weg!«, schrie Hoyt erneut, während aus der Galerie unter ihnen das Gemurmel aufgeregter Stimmen zu hören war und hastige Schritte am Fuß der Treppe ertönten.

Arius blickte sich nicht um, das war kaum nötig, aber er hörte, wie Hoyt wild um sich schlug, seine brennenden Gliedmaßen gegen die Wände donnerte und schließlich auf dem Boden zusammensackte. Mit den Gedanken war er bereits woanders, bei der kleinen Reise, die er würde unternehmen müssen, wenn er hoffte, Beth diesen Abend noch einzuholen.

37. Kapitel

Wenn die vor ihnen liegende Aufgabe nicht so ernst gewesen wäre, hätte Carter gelacht, als Ezra erschien. Er war ganz in Schwarz gekleidet, hatte ein schwarzes Barett tief in die Stirn gezogen und trug einen schwarzen Rucksack über der Schulter. Auf Carter wirkte er wie ein Mitglied der französischen Résistance in einer alten Wochenschau.

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