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Aber war das nicht nur ein weiteres Beispiel dafür, wie eine kleinliche Bürokratie das Voranschreiten menschlicher Erkenntnis verhindern konnte? Nichts machte ihn wütender.

Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sich zu ärgern. Alles in allem hatte er ziemliches Glück gehabt. Er hatte seine Beute, musste zurzeit keinen anderen dringenden Pflichten nachgehen und war an einem Ort, an dem er ungestört arbeiten konnte. Morgen, so nahm er sich vor, würde er anfangen, den schief hängenden Haussegen wieder geradezurücken. Wenn man ihn nur sich selbst überließe, würde er die Stückchen zusammenfügen und die verschollene Schriftrolle übersetzen, neben der sich der Legende nach das Buch der Offenbarung wie ein Märchen las.

Vorsichtig ergriff er einen weiteren Pergamentfetzen mit den behandschuhten Händen, legte es auf den Tisch und glättete es vorsichtig mit den Fingerspitzen. Es war dicht beschrieben, wie alle Fragmente der Rolle, mit der unverwechselbaren aramäischen Schrift, die dunkler, enger und eckiger war als das weiter verbreitete Paläohebräisch oder Altgriechisch. Wie passte dieses Stück der Rolle, an allen Enden zerfasert, zu dem Rest? Und was würde es sagen, wenn Ezra erst einmal herausgefunden hatte, wohin es gehörte, und den Text sorgfältig übersetzt hatte? Was würde es über den Krieg im Himmel, das Wort Gottes, die Apokalypse verraten?

Als Ezra den Rand dieses kleinen Fragments an den länglichen Streifen hielt, um zu sehen, ob sie irgendwo zusammenpassten, leuchtete etwas vor seinen Augen auf, wie ein blauer Blitz, und seine Fingerspitzen begannen zu kribbeln. Er lehnte sich zurück und hielt den Atem an.

War das tatsächlich gerade geschehen?

Er blinzelte und rieb die Fingerspitzen aneinander. Schmerzhaft konnte man das Gefühl bei weitem nicht nennen, aber es war auch nicht gerade angenehm. Ein feiner Hauch von Kordit lag in der Luft, und seine Finger fühlten sich an … wie sollte er es beschreiben? Als seien sie gerade mit einer lebendigen Stromquelle in Berührung gekommen.

10. Kapitel

Als der Wecker am Samstagmorgen um halb acht klingelte, begriff Carter zunächst nicht, was los war.

Es war Samstag.

Immer noch im Halbschlaf, drehte er sich zu Beth um und schob einen Arm unter die Decke und um ihre Hüfte. Als seine Hand tiefer glitt, hielt sie sein Handgelenk fest.

»Hast du nicht etwas vergessen?«, murmelte sie, die Augen geschlossen.

»Was denn?«

»Du hast eine Verabredung … weißt du nicht mehr?«

Jetzt fiel es ihm wieder ein. Punkt neun Uhr in Dr. Westons Praxis. Für den gefürchteten Spermatest. Er zog seine Hand zurück, ehe es noch schwerer wurde, aufzuhören. Beth drehte sich zur anderen Seite des Bettes, vielleicht, um es ihm leichter zu machen. Carter legte sich auf den Rücken und dachte an die vor ihm liegenden Stunden. Zuerst der Test, und dann die Fahrt zum Kennedy Airport. Joes Flieger sollte am Nachmittag landen.

Er schlüpfte aus dem Bett, tappte barfüßig durch den Flur ins Badezimmer und schaltete das Licht an. Beth hatte ihm schon zweimal Hausschuhe gekauft, aber er hatte keine Ahnung, wo die abgeblieben waren. Er trug nichts außer den karierten Boxershorts, in denen er geschlafen hatte. Befehl vom Doktor – nur Boxershorts führten zum Erfolg.

Nach einer kurzen Dusche und einem noch kürzeren Frühstück aus Kaffee und Pop-Tart-Keksen nahm er die U-Bahn Uptown. Er kam ein paar Minuten zu früh in der Praxis an. Das passte ganz gut, denn er musste noch Unmengen von Formularen und Fragebögen zu seinen Vorerkrankungen, den Krankheiten seiner Familie, den Medikamenten, die er zurzeit einnahm, seiner Krankenversicherung und so weiter ausfüllen. Als er fertig war, reichte er der Krankenschwester am Empfangstresen den Papierstapel. Sie überflog ein paar Seiten, prüfte seine Unterschrift unten auf der Seite und sagte dann: »Und Sie hatten seit mindestens vierundzwanzig Stunden keine Ejakulation?«

Carter war versucht zu sagen, dass er nah dran gewesen war, entschied sich dann aber dagegen. »Nein.«

Sie notierte etwas auf seiner Karte und führte ihn anschließend einen schmalen Korridor mit weißen nummerierten Türen entlang. Gedämpftes Licht, grauer Teppichboden, weit und breit kein Geräusch. Sie öffnete eine der Türen. In dem kleinen Raum dahinter sah er einen Sessel, einen an die Wand montierten Fernseher und ein Nachttischchen mit einem Stapel Pornomagazine.

»Im Fernseher liegt eine Videokassette«, sagte sie. »Sie müssen ihn nur noch einschalten. Die Magazine können Sie ebenfalls benutzen.«

Carter, der nicht darüber nachgedacht hatte, was ihn wohl erwartete, fühlte sich peinlich berührt.

»Bitte versuchen Sie, so viel wie möglich in diesem Behälter zu sammeln«, sagte sie und reichte ihm einen Plastikbecher. Entsetzt stellte er fest, dass er ihn an die Salsa-Schüsseln bei seinem Lieblings-Fast-Food-Mexikaner erinnerte. »Wenn Sie fertig sind, bringen Sie mir den Becher.«

Carter betrat den Raum, und die Schwester schloss die Tür. Er sah sich um und wusste nicht, wie er anfangen sollte. Wie um alles in der Welt sollte er hier erotische Gefühle entwickeln?

Gleichwohl steckte er fünfzehn Minuten später den Kopf aus der Tür und suchte nach der Krankenschwester, aber niemand war zu sehen. Er verdeckte den Becher mit der Probe mit der Hand und ging zurück zum Empfangsbereich, wo inzwischen eine Reihe anderer Patienten wartete. Die Schwester, die ihm den Raum gezeigt hatte, sprach gerade am Telefon mit jemandem.

Carter fing ihren Blick auf. Immer noch redend, streckte sie die Hand aus.

Erwartete sie tatsächlich, dass er ihr den Becher einfach so in die Hand drückte?

Er tat es. Sie stellte ihn neben das Terminbuch, lächelte und winkte ihm zum Abschied zu.

Carter hatte das Gefühl, gerade den seltsamsten Morgen seines Lebens erlebt zu haben, und dabei war es noch nicht einmal zehn Uhr. Zumindest hatte er jetzt noch genügend Zeit, um zum Flughafen zu fahren und Joe abzuholen. Nur zu schade, dass er nicht vorher noch einmal nach Hause konnte. Er hatte gerade unheimlich Lust auf Beth.

Am Flughafen sah er, dass Joes Flug pünktlich landen würde, ein Wunder, wenn man bedachte, dass es ein internationaler Flug war. Da er so früh dran war, hatte er noch Zeit, um zu Hause anzurufen. Beth nahm nach dem zweiten Klingeln ab.

»Ich hätte dich heute Morgen gut gebrauchen können«, sagte Carter.

Beth lachte. »Ich glaube, das ist nicht erlaubt.«

»Sollte es aber.«

»Wie war es? Sehr gruselig?«

»Ziemlich.«

»Ich weiß es zu schätzen, dass du hingegangen bist. Es bedeutet mir viel.«

»Na ja, das ist schließlich auch mein Projekt.«

»Ich weiß«, sagte sie leise. »Und wegen heute Morgen … Ich mache es wieder gut, wenn du nach Hause kommst.«

»Das könnte leichter gesagt als getan sein. Vergiss nicht, ich werde gut zweihundertfünfzig Pfund Italien im Gepäck haben.«

»Soll ich einkaufen gehen und etwas zu essen besorgen? Vielleicht ist er müde und will einfach nur ein ruhiges Abendessen zu Hause.«

Obwohl Carter nichts dazu sagen wollte, wusste er, dass Beths Vorstellung von einem ruhigen Abendessen zu Hause in leichter Kost bestand. Unmengen von Salaten und frischem Gemüse, mit vielleicht einer Hühnchenbrust ohne Kruste pro Person. Für Joe Russo waren das Appetithäppchen, und noch nicht einmal besonders verlockende.

Nein, Carter hatte vor, mit ihm auszugehen, vielleicht in ein Steakhouse wie das Morton’s oder The Palm. »Lass uns sehen, wie er sich fühlt, wenn er ankommt.«

»Okay. Ich werde den ganzen Tag mal unterwegs und mal zu Hause sein.«

Carter hörte eine Ansage über Lautsprecher, irgendetwas über einen Alitaliaflug aus Rom, also verabschiedete er sich und ging zur Ankunftshalle. Nachdem er ewig gewartet hatte, sah er einen Schwung Passagiere, die aus der Gepäckausgabe und der Zollkontrolle herausströmten. Wie alle anderen Wartenden musste er hinter einer Glaswand ausharren und die Menge nach der einen Person absuchen, die er abholen wollte. Die Menschen um ihn herum sahen alle eindeutig italienisch aus, zumindest viele von ihnen, in ordentlich geschneiderten Anzügen, glänzenden Sonnenbrillen und kleinen polierten Lederschuhen. Eine Frau in einem Pelzmantel trug eine Gucci-Tasche, aus der neugierig ein winziger Hund hervorlugte.

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