»Oh shit«, murmelte sein Wohltäter.
Er fühlte sich am Ärmel des Mantels gepackt und in den dunklen Eingang gezerrt, in dem er damals gestanden hatte, um das Feuer zu betrachten.
Das Auto kam näher, und er wurde noch tiefer in den Schatten gezogen, bis zum Ende der Treppe unterhalb des Straßenniveaus. Der Boden war mit dickem Papier und zerbrochenen Flaschen bedeckt, es roch nach Müll … und menschlicher Vereinigung.
»Wir werden hier nur eine Weile warten, bis meine Freunde weg sind.«
Jetzt roch er auch … Furcht.
»Man nennt mich Domino, vielleicht, weil ich so leicht umkippe.« Ein leises Lachen. »Willst du mir sagen, wie man dich nennt?«
Es gefiel ihm hier nicht, und er begann, die Stufen wieder zu erklimmen. Doch Domino packte ihn erneut am Ärmel und sagte: »Die Cops gurken hier immer noch rum. Und überhaupt, wozu die Eile?«
Domino zog ihn dichter zu sich heran. Sie waren etwa gleich groß, und er konnte seinem Wohltäter direkt in die Augen blicken. Sie waren dunkelbraun, mit langen schwarzen Wimpern. Die Brauen waren, wie er jetzt erkannte, bernsteinfarben gefärbt.
»Du schuldest mir noch was.« Dominos Finger spielten mit seinem Mantel. »Ich habe dir schließlich den hier gegeben.« Er spürte, wie die Knöpfe geöffnet wurden. »Ich bitte dich nicht um Geld – es sei denn, du möchtest mir etwas geben. Aber du könntest mir zumindest zeigen, was du darunter trägst.« Der Mantel öffnete sich. »Ich denke immer noch, dass du was ganz Besonderes im Schilde führst.«
Als sich der Mantel weiter öffnete, schwand die Dunkelheit am Fuß der Treppe. Domino lehnte sich zurück, um den Anblick auf sich wirken zu lassen. »Wow, du machst es schon wieder!«
Er sorgte dafür, dass sein Strahlen noch ein wenig heller wurde. Im Licht konnte er Domino deutlicher erkennen als je zuvor. Erkannte das falsche Haar, welches das echte verdeckte, die kräftigen Knochen unter dem Puder und dem Lehm im Gesicht, die sehnigen Arme unter den weichen femininen Kleidern.
Dominos Hand schlich sich ins Innere des Mantels. Berührte ihn.
Unter dem süßen Parfum nahm er den Geruch der Verderbnis wahr.
»Was zum … Teufel«, sagte Domino stockend.
Er breitete die Arme aus, und Domino trat zurück bis an die feuchte Mauer des Kelleraufgangs. Die Handtasche rutschte auf den schmutzbedeckten Boden.
»Heiliger Strohsack …«
Er schüttelte den Mantel von den Schultern und kam näher. Er umarmte Domino, der sich jetzt wehrte.
Was ihn nur dazu brachte, seinen Griff zu verstärken. Er presste den sich windenden und um sich schlagenden Körper an sich. Er konnte die Hitze riechen, die Angst, die Wut. Er umklammerte Domino so fest, dass dieser seine Glieder nicht mehr rühren konnte. Er spürte, wie der Körper nach Luft rang, das Herz wie rasend in der Brust schlug. »Du fragtest nach meinem Namen«, sagte er, während plötzlich ein exakter Flammenkreis aus dem Beton um ihre Füße erwuchs. In Dominos vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen spiegelte sich der Schein des Feuers. »Er lautet Arius.«
Die Flammen wuchsen rasch, wanden sich um ihre vereinigten Leiber wie eine Schlange um einen Baum. Domino schrie, aber das Geräusch wurde vom Feuer erstickt und verhallte dumpf im düsteren Kelleraufgang. Seine Kleider brannten, und seine Haut knisterte und brach. Die Perücke auf seinem Kopf verschwand in einer Wolke aus goldenem Feuer.
Als es nicht mehr genügend gab, das er festhalten konnte, ließ Arius ungerührt los und trat zurück. Was von Domino übriggeblieben war, fiel in einem flackernden Haufen aus verrußter Haut und Knochen zusammen. Orangefarbene Funken tanzten in der Dunkelheit, als Arius sich bückte, um den roten Mantel aufzuheben, die Asche abzuschütteln und ihn wieder anzuziehen. Auch die heruntergefallene Handtasche hob er auf und wandte sich zur Treppe.
Im Grunde hatte sich nichts geändert, dachte er, während er zur Straße emporstieg und die Handtasche durchwühlte, um zu sehen, ob sich darin etwas von Nutzen befand. So etwas kam davon, wenn man sich abscheulichen Lastern hingab.
22. Kapitel
Carter war heute nicht in Stimmung. Zuerst war da dieser verstörende Termin in der Arztpraxis gewesen, und jetzt versuchte er, einem ungewöhnlich unruhigen Seminarpublikum die Theorie der Geochronologie nahezubringen.
»Den meisten von uns wurde vorgegaukelt«, sagte er, »die Menschheit habe sich in einem langen kontinuierlichen Prozess entwickelt, und dass alle protohumanen Fossilien, egal, wo sie gefunden werden, und egal, wie alt sie sind, sich irgendwo in diese Linie einfügen lassen müssen.«
Er blickte von seinen Notizen auf und sah ein paar Studenten in der letzten Reihe, die mit gesenkten Köpfen über etwas diskutierten, das wie eine Glückwunschkarte aussah.
»Aber diese Theorie, bekannt als Theorie des einzelnen Ursprungs oder auch Out-of-Africa-Theorie«, fuhr er fort und versuchte, die Störung zu ignorieren, »ist zunehmend schwerer zu verteidigen. Neuere Funde in Ländern wie China oder Indonesien, insbesondere auf Java, weisen in eine andere Richtung. Sie deuten auf eine Welt hin, die Millionen von Jahre alt ist und auf der verschiedene hominide Spezies es geschafft haben, den Planeten zur selben Zeit zu bewohnen. Nicht unbedingt friedlich, aber zumindest gleichzeitig.«
Er blickte erneut auf. Dieses Mal sah er, wie jemand die Karte an Katie Coyne weiterreichte, und er wurde wütend.
»Also gut, wer erklärt mir, was Sie da treiben?«
Stille legte sich über den Hörsaal.
»Katie, würden Sie mir bitte erklären, was los ist, ehe ich beschließe, Ihnen allen einen unangekündigten Test aufzudrücken?«
Katie sah aus, als würde sie lieber nichts sagen. Sie rückte das blaue Tuch zurecht, das sie heute auf dem Kopf trug und mit dem sie auf Carter wie ein hübsches Bauernmädchen in einem Gemälde von Millet wirkte. »Es ist eine Gute-Besserung-Karte«, erklärte sie schließlich.
»Okay«, erwiderte Carter kühl und fragte sich, wieso das eine angemessene Erklärung sein sollte. »Und für wen?«
»Für Ihren Freund«, sagte sie. »Professor Russo. Wir unterschreiben alle.«
Carter fehlten die Worte.
»Ich wollte sie ihm später noch vorbeibringen, wenn Sie meinen, dass es okay ist.«
»Ja«, sagte Carter, inzwischen leicht verlegen. »Ich bin sicher, dass er sich freuen wird.«
Es klingelte, keinen Augenblick zu früh. Die Studenten packten, vielleicht aus Rücksicht auf seine Stimmung, ihre Sachen noch schneller zusammen als sonst.
»Aber diese Idee mit der Geochronologie«, sagte Katie über das Gewusel hinweg, »klingt cool. Dem kann ich voll zustimmen.«
Er wusste, dass sie nur versuchte, ihn zu überzeugen, dass nicht alles, was er heute gesagt hatte, verschwendet gewesen war. Es war ein netter Versuch, aber er wusste auch, dass es ihm heute nicht gelungen war, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln.
Zum Lunch ging er an den einzigen Ort, an dem er sicher sein konnte, keinem seiner Fakultätskollegen über den Weg zu laufen, in die Mensa. Er trug sein Tablett mit einem Hamburger und Pommes zu einem Tisch in der hintersten Ecke, wo es nicht ganz so laut war, und er seine Ruhe hatte. Mit dem Rücken zur hungrigen Horde sitzend, konnte er nachdenken, ohne gestört zu werden.
Das einzige Problem war, dass seine Gedanken heute nur in miese Richtungen gingen.
Angefangen hatte es mit dem Termin in Dr. Westons Praxis, wo sie die Ergebnisse ihrer verschiedenen Tests erfuhren. Carter hatte sich nicht darauf gefreut, aber den Augenblick auch nicht gefürchtet. Er nahm an, dass die Probleme, die Beth und er hatten, sich als ziemliche Routineangelegenheit erweisen würden. Ein, zwei kleine Korrekturen in ihrer Methode der Familienplanung, und in Nullkommanichts wäre alles auf den richtigen Weg gebracht. Sie waren beide jung und gesund, und Beth ernährte sich sogar ausgesprochen ausgewogen. Wenn er es aus irgendwelchen Gründen ebenso halten müsste, würde er eben auf sein Junk-Food verzichten.