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Ezra beantwortete so viele Fragen wie möglich, aber da er selbst nicht viel wusste, konnte er spüren, wie die Enttäuschung seines Vaters mit jeder Minute wuchs.

»Ich sehe zu, dass ich hier fertig werde«, erklärte Sam, »und komme so schnell wie möglich zurück.«

»Gibt es irgendetwas, das ich in der Zwischenzeit für dich tun kann?«

»Ja! Ich möchte, dass du ins Krankenhaus fährst und dafür sorgst, dass sie verdammt nochmal alles bekommt, was sie braucht.«

Ezra legte auf und hatte das Gefühl, wieder einmal irgendetwas falsch gemacht zu haben. Sein Vater vermittelte ihm ständig dieses Gefühl.

Er ging zurück in sein Zimmer. Er wagte kaum auf die leere Stelle auf seinem Zeichentisch zu blicken, wo das Fragment der Schriftrolle gelegen hatte. Er nahm seinen Mantel und fuhr nach unten. Vom Pförtner, Alfred, ließ er sich ein Taxi rufen, und während sie warteten, schüttelte Alfred den Kopf und sagte: »Tut mir furchtbar leid, diese Sache.«

»Ja, ist wirklich schrecklich.«

»Sie sieht immer so hübsch aus, und diese Partys, die sie immer schmeißt, bringen uns in die Zeitung.«

Was genau ihre Absicht ist, dachte Ezra.

»Ach ja, falls Sie das zurückhaben wollen«, sagte der Pförtner und zog ein paar Papiere aus seiner Uniformtasche, »Mrs Metzger will sie immer gerne wiederhaben.«

Ezra blickte auf das geprägte Briefpapier und sah, dass es sich um eine Liste der geladenen Gäste handelte, mit kleinen Häkchen hinter fast allen Namen.

»Sie bat mich, die Gäste bei ihrer Ankunft zu überprüfen«, sagte der Pförtner, »und ihr die Liste nach der Party zurückzugeben. Für ihre Unterlagen, nehme ich an.«

»Ich werde es ihr geben«, sagte Ezra, während das Taxi in die Auffahrt einbog und er hinten einstieg.

»Doctors Hospital«, sagte er, und der Wagen fuhr an.

Während er auf dem Rücksitz saß und in den späten grauen Nachmittag starrte, dachte er über alles nach, was gerade geschehen war. Kimberlys Delirium, der Schaden an der Schriftrolle. Zu seiner geheimen Schande wusste er genau, was ihn mehr bekümmerte. Kimberly würde geheilt werden, von was immer sie plagte, aber die Schriftrolle? Die würde nie wieder restauriert und jener Teil des Textes nie wiederhergestellt werden können. Er hatte immer das Gefühl gehabt, die Schriftrolle sei ihm anvertraut worden, möglicherweise von einer höheren Macht. Seine Aufgabe, seine Pflicht war es gewesen, sie zu schützen. Doch er hatte wieder einmal versagt.

Das Taxi hielt vor einer Ampel in der First Avenue, und Ezra blickte auf den Ausdruck der Gästeliste in seiner Hand. Manche der Namen – des Bürgermeisters, einiger Stadträte, alter Freunde der Familie – erkannte er. Auf den anderen Seiten standen reihenweise Namen, die wahrscheinlich nur Kimberly etwas sagten. Er blätterte bis zum Ende der Liste, und dort entdeckte er noch ein paar Namen in lavendelfarbener Tinte hingekritzelt. Vermutlich Einladungen in letzter Minute, die sie selbst handschriftlich hinzugefügt hatte.

Da war ein Mr Donlan, Mr und Mrs Lamphere und am Ende, mit einem großen Fragezeichen daneben, ein Mr Arius.

Hm. Das war ein seltsamer Name. Und was hatte das Fragezeichen zu bedeuten?

Vermutlich war sie sich nicht sicher gewesen, ob er kommen würde.

In diesem Moment fuhr das Taxi weiter, und er dachte wieder an jenen Abend. Erinnerte sich an eine weitere Merkwürdigkeit.

Dieser große blonde Mann, mit dem er im Korridor zusammengestoßen war. Seinen Namen kannte er zwar nicht, aber er war aus der Richtung von Kimberlys Schlafzimmer gekommen.

Er dachte an die Prellungen, die er auf ihrem Körper gesehen hatte. Male, von denen er sich einfach nicht vorstellen konnte, dass sein Vater dafür verantwortlich sein sollte.

Er dachte an die bizarre Erscheinung des blonden Mannes.

Und dann dachte er an den Namen. Er schaute erneut auf die Liste und auf das dazugehörige Fragezeichen. War es dort, weil sie nicht sicher war, ob er kommen würde? Oder weil sie nicht sicher war, wie der Name buchstabiert wurde?

Er sprach ihn laut aus. »Arius«, sagte er. Der Taxifahrer drehte sich um.

»Nichts«, sagte Ezra, dann murmelte er den Namen erneut, leiser diesmal. »Arius.«

Seine Gedanken flogen zu dem Teil der Schriftrolle, an der er gerade gearbeitet hatte. Eine Liste mit Namen. Gadreel, Tamuel, Penemue … und als letzter … Ereus.

Das war seine Umsetzung der Laute gewesen, aber konnte man sie nicht genauso gut – oder sogar noch besser – mit Arius übersetzen?

Plötzlich glaubte er zu wissen, was Kimberly heimgesucht hatte. Und zum ersten Mal glaubte er, dass sie es womöglich doch nicht überleben würde.

Wenn das stimmte – würde dann irgendjemand überleben?

29. Kapitel

Carters erste Station an diesem Tag war die Hauptbibliothek gewesen, und was er dort entdeckt hatte, war schon übel genug.

Jetzt saß er im Fachbereichsbüro, und es wurde noch schlimmer. Die Sekretärin reichte ihm einen Brief der Rechtsanwaltskanzlei Grundig und Gaines, mit dem er darüber informiert wurde, dass Mrs Suzanne Mitchell, die Witwe des kürzlich verstorbenen Bill Mitchell, die New York University wegen fahrlässiger Tötung verklagt habe und dass er, Carter Cox, als Verantwortlicher des Labors, in dem der tödliche Unfall sich zugetragen hatte, seines Amtes zu entheben sei.

»Der Vorsitzende hat ebenfalls so ein Schreiben erhalten«, sagte die Sekretärin, »und er möchte, dass Sie sich für die nächste Woche einen Termin bei ihm geben lassen.«

Was kommt denn jetzt noch?, dachte Carter. Innerhalb weniger Tage hatte er erfahren, dass er steril war, ein guter Freund war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, seine Frau hatte irgendeinen unheimlichen halluzinatorischen Albtraum erlitten, und jetzt sah es so aus, als wollte Mackie ihn zusammenstauchen, weil er Unheil über den gesamten Fachbereich gebracht hatte.

»Also«, sagte die Sekretärin, »wie wäre es mit Donnerstag um drei Uhr?«

Carter brauchte eine Sekunde. »Oh – sicher, das geht.« Er warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass er zu spät kommen würde. Wieder einmal. Er musste zum St. Vincent’s, zu dem Gipfeltreffen, das sowohl Ezra als auch Joe eingefordert hatten.

Als er an die Kreuzung gegenüber vom Haupteingang des Krankenhauses kam, musste er an der Ampel warten. Das verschaffte ihm genügend Zeit, um festzustellen, dass das Schild vor dem alten Sanatorium, auf dem der Bau der Villager-Genossenschaftswohnungen angekündigt wurde, jetzt mit einem neuen Banner protzte. Darauf hieß es:

GRUNDSTEINLEGUNG AM 1. JANUAR!

VERKAUFSBÜRO ÖFFNET IN KÜRZE.

Er meinte sogar, jemanden hinter den Fenstern im obersten Stock zu sehen, vielleicht einen Mitarbeiter des Abrissunternehmens. Nur in New York City, wo der Immobilienmarkt selbst jetzt noch verrückt spielte, konnte ein Bauunternehmer damit rechnen, dass die Leute Schlange standen, um eine Wohnung in einem Gebäude zu erwerben, das bislang nur auf dem Papier existierte.

Als er schließlich die Verbrennungsintensivstation erreichte, hörte er bereits Ezras Stimme aus Joes Zimmer. Verdammt, eigentlich hatte er die beiden einander vorstellen wollen. Außerdem wollte er dabei sein, um, falls nötig, den ersten Schock, den Ezra möglicherweise bei Joes Anblick zeigen könnte, zu überspielen.

Doch als er eintrat, stellte er fest, dass er sich unnötig Sorgen gemacht hatte. Ezra hatte sich einen Stuhl neben das Bett gezogen, und Joe wandte ihm aufmerksam den Kopf zu. Sie erweckten den Eindruck von engen Verbündeten, die es ihm geradezu verübelten, dass er sie störte. Zum Gruß hob Joe seine verbrannten Finger, und Ezra nickte kurz, um sogleich mit seinen Ausführungen fortzufahren.

»Lasst euch durch mich nicht stören«, sagte Carter, hockte sich auf die Heizkörperabdeckung auf der anderen Seite des Bettes und ließ seine Aktentasche neben sich fallen. Darin befand sich Joes Kruzifix, das er ihm in einem ungestörten Moment zurückzugeben gedachte.

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