»Ich habe Joe gerade von einem Mann erzählt, den ich gesehen habe«, wiederholte Ezra, »demjenigen, der dem Felsen entstiegen ist.«
Carter fühlte sich, als würde er plötzlich im freien Fall das Kaninchenloch hinunterstürzen. »Ach ja?«, sagte er skeptisch. »Und was haben Sie ihm erzählt?«
»Seinen Namen.«
Carter blickte demonstrativ auf seine Uhr. »Ich bin nur fünfzehn Minuten zu spät dran, und wir sind bereits zu dem Schluss gekommen, dass tatsächlich ein Mann aus dem Fels geklettert ist …«
»Er ist es«, krächzte Joe.
»Und wir kennen außerdem seinen Namen?«
»Das tun wir«, sagte Ezra. »Er lautet Arius. Und er ist einer der Wächter.«
»Der was?«
»Der Wächter. Ein Orden aus Engeln, die bereits existierten, ehe die Zeit, wie wir sie kennen, begann.«
Es war reines Glück, dass Carter bereits saß. Er blickte von einem zum anderen, um herauszufinden, ob sie ihn nicht vielleicht irgendwie verulkten, aber er merkte sofort, dass dem nicht so war. Joes Miene war unerschüttert, und Carter begriff plötzlich, dass sich eine neue Allianz gebildet hatte. Er war überstimmt worden. Endlich hatte Joe jemanden gefunden, der seinen Bericht akzeptierte, und der glaubte, dass das, was er gesehen hatte, mehr war als die Halluzination eines schwerverletzten Mannes. Und Ezra hatte einen Mitstreiter gefunden, der sich seine haarsträubenden biblischen Theorien anhörte.
Es lag allein an Carter, ob er mit einsteigen oder abspringen wollte. »Also gut. Wenn er, wie ihr sagt, ein Engel ist«, sagte Carter und versuchte, aufgeschlossen zu klingen, »dann lasst mich ein paar Fragen stellen. Erstens, warum ist Bill Mitchell tot? Und zweitens, warum liegt Joe hier und wartet auf eine Hauttransplantation? Sollten Engel nicht über uns wachen und uns vor Leid beschützen?«
»Nein, nicht unbedingt«, sagte Ezra. »Es gibt alle möglichen Arten von Engeln. Manche von ihnen sind Freunde der Menschheit, andere nicht.«
Und wie viele können auf einem Stecknadelkopf tanzen?, dachte Carter. Joe musste seinen Gedanken gelesen haben.
»Bones, bitte«, sagte er ernsthaft. »Ezra … kennt sich mit diesen Dingen aus.«
Aus Rücksicht auf Joe schluckte Carter seine Skepsis ein weiteres Mal herunter. »Dieser Engel, von dem Sie … du redest, dieser Arius, ist also einer von den Bösen?«
»Das habe ich nicht behauptet. Die Wächter wurden von Gott berufen, um die Entwicklung der Menschheit zu überwachen, und um ihnen Dinge beizubringen – alles vom Ackerbau bis zum Bogenschießen.«
»Sie haben uns Pfeil und Bogen gegeben?«, fragte Carter.
»Zusammen mit der Sprache und der Literatur, Astronomie und Kunst«, fuhr Ezra fort und weigerte sich, nach Carters Köder zu schnappen. »Es erklärt, wie er es schafft, hier zu überleben, wie es ihm gelingt, im New York von heute zurechtzukommen.«
Ein weiterer harter Brocken für Carter. »Ach, jetzt ist er also nicht nur lebendig, nach ein paar hundert Millionen Jahren, sondern auch noch ein ganz normaler New Yorker? Mit einem Job und einer Wohnung?«
Wütend starrte Ezra ihn an. »Es erklärt«, sagte er in sorgfältig bemessenem Ton, »warum er in der Lage ist, unsere Sprache, Gewohnheiten und Gebräuche in einer unglaublichen Geschwindigkeit aufzunehmen. Man könnte sagen, dass er diese Dinge erfunden hat. Ohne das, was die Wächter uns vermittelt, ohne diesen Funken des göttlichen Feuers, das sie uns geschenkt haben, wäre niemand von uns dort, wo er heute ist. Und damit meine ich die gesamte Menschheit.«
»Und jetzt?«, fragte Carter. »Will er seine Geschenke zurückhaben? Ist er nicht glücklich damit, wie wir sie benutzen? Ist er deshalb hier?«
Ezra blickte hinüber zu Joe. »Über seine Pläne sind wir uns noch nicht im Klaren. Wir sprachen gerade darüber. Ich muss noch weiter daran arbeiten.«
»Woran?«, fragte Carter, obwohl er sich das denken konnte. »An den Schriftrollen? Du glaubst, dass etwas, das vor unzähligen Jahren aufgeschrieben und in einer Wüstenhöhle versteckt wurde, dir das sagen wird?«
»Gut möglich. Und vielleicht verrät es uns auch, was mit ihm geschah und warum er fiel, vor so langer Zeit.«
Carter fuhr sich mit der Hand durch das dichte braune Haar. Er kam sich vor, als habe er eine Irrenanstalt betreten und versuchte, aus dem Gebrabbel der Insassen schlau zu werden. Wenn man der Unlogik zu Leibe rücken wollte, musste man Stück für Stück des Phantasiegebildes entfernen, damit sie selbst einsahen und begriffen, wie irrational es war. Aber wo sollte er anfangen?
»Warum denkst du«, fragte Carter schließlich Ezra, »dass er keinen Flug nach Paris oder einen Greyhound nach Florida genommen hat? Warum glaubst du, dass Arius immer noch hier in New York ist?«
»Ganz einfach«, sagte Ezra und lehnte sich so weit zurück, dass die Vorderbeine seines Stuhls sich vom Boden lösten. »Ich habe ihn getroffen.«
Jetzt, dachte Carter, bin ich ganz unten im Kaninchenloch und auf direktem Weg ins Wunderland. »Du hast«, sagte er langsam, »diesen Engel getroffen?«
»Er war auf der Spendenparty für den Bürgermeister in unserer Wohnung.«
Meinte er das ernst?
»Und ich habe den starken Verdacht, dass er meine Stiefmutter schwer verletzt hat. Deshalb sagte ich, dass ich noch nicht weiß, was seine Absichten sind. Da tappe ich ebenso im Dunkeln wie du.«
Betrübt schüttelte Carter den Kopf. »Das bezweifle ich.«
»Bones«, sagte Joe mit kaum hörbarer Stimme, »du bist Wissenschaftler. Sieh dir die Beweise an.«
»Joe, das würde ich gerne, aber es gibt keine.«
Joe hob die Hände, als wollte er sagen Sieh mich an. Sieh dir alles an, was passiert ist. Wie willst du das alles sonst erklären? »Sag nicht, du hättest dir nicht … schon deine eigenen Gedanken gemacht«, sagte er, und Carter hatte das Gefühl, sein Freund würde in ihn hineinblicken, geradewegs in seinen Kopf. Es stimmte, es gab Dinge, die Carter nicht leugnen konnte, nicht einmal vor sich selbst. Er dachte zurück an die letzte Nacht, als er in der Aeneis die Zeilen über Avernus gefunden hatte. Und an heute Morgen, als seine Nachforschungen in der Bibliothek den Rest zutage gefördert hatten.
Joe musste etwas in seinem Gesichtsausdruck gesehen haben. »Da ist etwas, das du uns sagen willst«, sagte er. »Etwas, das du erfahren hast.«
»Nein, da ist nichts«, sagte Carter und versuchte, den Gedanken beiseitezuschieben.
»Das ist etwas«, beharrte Joe. »Ich habe diesen Blick vor Jahren schon einmal gesehen, auf Sizilien.«
Ezra wartete. »Je verrückter es dir vorkommt, desto lieber möchte ich es hören.«
Aber Carter hatte das Gefühl, dass er, wenn er es laut ausspräche, wenn er auch nur einen Zeh in das sumpfige Wasser steckte, nie wieder sicher aus der Sache herauskäme. Mit jeder Faser seiner Existenz sträubte er sich dagegen, diesen düsteren Morast zu betreten.
Aber hatte er das nicht schon längst getan? Hatte er unbewusst den ersten Schritt nicht bereits in dem Moment gemacht, in dem ihm der absolut seltsame Verdacht in den Sinn gekommen war? Oder zumindest, als er ihm heute Morgen in den Regalen der Forschungsbibliothek der Universität nachgegangen war?
»Es ist nur ein merkwürdiger Zufall«, sagte Carter.
»Manchmal ist es vielleicht mehr als das«, sagte Ezra. »Wir werden es nicht wissen, solange du es uns nicht sagst.«
Joes mühsames Atmen war das lauteste Geräusch im Raum.
»Es hat etwas mit dem Ort zu tun, an dem das Fossil gefunden wurde«, räumte Carter ein.
»Lago d’Averno«, sprang Joe ein, »in der Nähe von Neapel.«
»Was ist damit?«, fragte Ezra ungeduldig.
»Nun, dem römischen Dichter Vergil zufolge ist das ein sehr interessanter Ort. In der Aeneis schrieb er, dass es dort einen Zugang gäbe … einen Zugang zur Unterwelt.«
Ezra und Joe reagierten mit bestürztem Schweigen.
»Seit Tausenden von Jahren«, fuhr Carter widerstrebend fort, »gibt es in den lokalen Legenden und dem überlieferten Wissen Geschichten darüber, wie dieses Tor beschaffen ist.«