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»Das Fossil?«, fragte Joe und kam zaghaft näher. Unwillkürlich musste er an den Traum denken, den er in Rom gehabt hatte.

»Das sieht gut aus«, sagte Carter. »Gott sei Dank ist es nicht umgekippt.«

Im großen Bogen ging Joe um den Felsbrocken herum und inspizierte ihn vorsichtig. Er dachte an seinen Albtraum von dem losen Seil, das gegen den Felsen schlug. War das womöglich tatsächlich eine Warnung gewesen?

Leutnant DiPalma bückte sich, um die Kette vom Tischbein zu wickeln, und sie mit der Hilfe des unverletzten Arbeiters zurück auf die Ladefläche des Trucks zu werfen. Sie schlug mit einem gedämpften Rasseln auf. Er kam noch einmal zu Carter zurück und erklärte: »Das Fossil gehört jetzt Ihnen, Professore.« Er sagte es mit einer offenkundigen Erleichterung, als würde er vor einem unsichtbaren Gericht unter Eid aussagen. Er rückte seine Mütze zurecht und streckte zum Abschied die Hand aus. Carter schüttelte sie, und der Leutnant hielt sie fest und sagte: »Seien Sie vorsichtig.« Sein Blick huschte zum brütenden Felsblock hinüber und kehrte dann vielsagend zu Carter zurück. »Ein Unfall, verstehen Sie, ist schnell passiert.«

12. Kapitel

Nicht mehr lange, und es würde dämmern. Vor nur wenigen Momenten war der Himmel noch tiefschwarz gewesen, und jetzt schimmerte er bereits in einem tiefen kräftigen Indigoblau. Ezra eilte dahin, den Blick auf den Gehweg gerichtet, die Arme vor der Brust verschränkt, um den Mantel geschlossen zu halten.

Er wusste nicht, wohin er ging, und es kümmerte ihn auch nicht. Er wusste nur, dass er aus seinem Zimmer raus musste, raus aus dieser Wohnung, dass er nicht aufhören durfte, sich zu bewegen. Er musste unter Leute, selbst wenn es nur wenige waren, die zu dieser unchristlichen Uhrzeit vereinzelt unterwegs waren, zusammen mit vorbeirumpelnden Bussen und Taxis auf dem Weg zum Depot. Er brauchte die Aktivität, diese absolut banale Alltäglichkeit der Geschäftigkeit, die ihn umgab.

Er brauchte es, um zu vergessen, was in der Nacht geschehen war.

Er hatte gearbeitet. Tat er noch irgendetwas anderes? Die Schriftrolle machte Fortschritte, schneller, als er erwartet hätte. Die Bruchstücke schienen geradezu an die richtigen Stellen zu fallen. Stundenlang hatte er sich in die Arbeit vertieft und wie immer jedes Zeitgefühl verloren. Der CD-Player hatte zur nächsten CD gewechselt, Beethovens Klavierkonzert Nr. 5. In der zeitweiligen Stille hatte er mit behandschuhten Fingern vorsichtig ein Fragment der Schriftrolle zwischen zwei andere gelegt, und die enge, kunstvolle Handschrift schien zu seinem Entzücken ineinanderzufließen und einen Sinn zu ergeben. Doch als er den Kopf tiefer gebeugt hatte, um seine Arbeit zu begutachten, hatte er eine Stimme gehört, die etwas in sein Ohr flüsterte, so deutlich wie er das Ticken seiner Armbanduhr hörte. Die Worte waren nicht zu entziffern gewesen, als handele es sich um eine fremde Sprache, und doch war die Bedeutung irgendwie klar. Sie lautete ja … mach weiter.

Und es klang, als würde sich der Sprecher direkt über seine Schulter lehnen.

Er riss den Kopf zurück und wirbelte auf seinem Stuhl herum. Sein Nacken kribbelte, und sein Herz pochte heftig.

Aber da war niemand. Im Raum war keiner außer ihm selbst.

Dabei hatte er die Stimme gehört. Und er hatte einen Atemzug gespürt, einen warmen Lufthauch an seiner Wange.

Dann setzte leise das Klavierkonzert ein.

Er stand von seinem Stuhl auf, die Beine fühlten sich ein wenig schwach an. Die Vorhänge am Fenster, die doppelten Vorhänge, die Gertrude auf seine Bitte hin aufgehängt hatte, bewegten sich – kaum wahrnehmbar, aber sie bewegten sich. Mit zögernden Schritten ging er auf sie zu. Hielt sie fest. Zog sie auseinander.

Er spürte einen leichten Zug, ein kühler Windhauch drang durch die Ritzen im Türrahmen der Terrassentür. Aber die Türen waren geschlossen, und der Balkon war leer.

Er war allein im Zimmer.

Er kehrte zum Schreibtisch zurück und blickte auf seine Arbeit hinunter. Die Oberfläche des Tisches war zur Hälfte mit Bruchstücken und Teilen der Schriftrolle bedeckt, die er gewissenhaft ausgebessert und zusammengefügt hatte. Er hatte sie sogar schon ansatzweise übersetzt und festgestellt, dass es sich tatsächlich um das Buch Henoch handelte. Er hatte also recht gehabt, verdammt recht. Es war Henochs Bericht von seiner Reise gen Himmel, und von dem, was er dort erblickt hatte. Der Text handelte von Engeln, die hell um den Thron Gottes herum erstrahlten, und von anderen, den gefallenen, die in Ungnade gefallen waren. Der Text handelte von einem kommenden Krieg. Von einer Seuche, die auf Erden wüten würde. Es war ein Traum, es war eine Prophezeiung … und sie gehörte ihm. Niemand anders hatte sie gesehen, niemand hatte sie gelesen, seit Tausenden von Jahren. Manchmal fühlte sich das Gewicht dieser Entdeckung wie ein Hammer im Inneren seines Kopfes an, der drohte, seinen Schädel zu zertrümmern.

Und vielleicht war genau das heute Nacht geschehen, dachte er. Vielleicht hatte sich ein klitzekleiner Spalt in seinem Schädel aufgetan, nur für den Bruchteil einer Sekunde, und das Geräusch dieser Stimme entweichen lassen. Vielleicht war die Stimme gar nicht von außen gekommen; womöglich war sie aus dem Inneren seines eigenen Kopfes gekommen. Der zweigeteilte Geist war wieder bei der Arbeit.

Ein Löschzug der Feuerwehr raste mit heulenden Sirenen über die First Avenue, mehrere Taxis im Kielwasser. Eine Limousine hielt am Bordstein an, und ein Mädchen im glitzernden Partykleid, das seine Schuhe in den Händen hielt, stieg aus. Ein paar Tauben kreuzten im perfekten Gänsemarsch seinen Weg. Wie die Beatles auf dem Cover von Abbey Road, dachte er.

Der Himmel war dunkelblau, aber die Sonne ging auf.

Ezra ging weiter. Wenn er an einer Straßenecke anhalten musste, um auf Grün zu warten, lief er auf der Stelle weiter. Er brauchte dieses Gefühl von Bewegung, das Gefühl, Energie zu verbrauchen. Er musste seine Schritte auf dem Gehweg hören, die Autos, die vorbeirauschten – irgendetwas, solange es nicht die Stimme in seinem Ohr war.

Ein Mann in einem Blumenladen spritzte den Bürgersteig ab, hielt aber inne, um Ezra vorbeizulassen.

Vor einem japanischen Restaurant, das Ezra gelegentlich besucht hatte, stand ein hölzerner Bottich mit frischem Fisch. Als er vorbeiging, schien ein großer Fisch mit glitzernden silbernen Schuppen ihn mit totem Blick zu fixieren.

Er hastete weiter. Mit jeder Minute nahm der Verkehr zu. Die Sonne war endgültig aufgegangen. Der Besitzer eines koreanischen Lebensmittelladens rollte das schwere Metallgitter hoch, das seine Tür und sein Schaufenster bedeckte.

Ezra ging weiter. Je länger er unterwegs war, desto besser fühlte er sich. Die Stimme in seinem Ohr verstummte allmählich. Es war gut, draußen zu sein, gut, die Morgenluft und den Puls des Lebens um sich herum zu spüren. Vielleicht sollte er das regelmäßig machen. Vielleicht sollte er anfangen, lange Spaziergänge zu machen, etwas Sport zu treiben.

Bevor er sich dessen bewusst war, stand er an der Ecke zur neunundachtzigsten Straße, der Straße, in der sein Onkel Maury wohnte. Er bemerkte es erst, als er vor der alten Wiener Bäckerei stehenblieb, in der sein Onkel seine Plunderstückchen am liebsten kaufte. Die Tür zur Bäckerei war geschlossen, aber im Inneren brannte Licht, und er sah eine Frau, die ein Tablett mit orangefarbenen Halloweenkeksen in den Schaukasten schob.

Leise klopfte er gegen die Glasscheibe in der Tür. Wäre es nicht eine nette Überraschung, seinen Onkel mit seinem Lieblingsgebäck zu wecken?

Die Frau kam um den Tresen herum und wischte sich die Hände an der Schürze ab.

»Haben Sie schon geöffnet?«, rief Ezra durch die Tür. »Kann ich schon etwas kaufen?«

Sie beugte sich vor, nur um gleich darauf wieder zurückzuweichen. »Wir haben geschlossen«, sagte sie und wandte sich ab.

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