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Auf dem letzten Foto der Mappe sah man die Felsplatte unter einem Kunststoffbaldachin. Sie ruhte, gestützt von einem halben Dutzend Stahlböcken, anscheinend in einem offenen Innenhof. Auf die Rückseite hatte Joe geschrieben: »Halle der Biologischen Fakultät, Universität von Rom«. Dann folgten die Daten der Probe. »Der Fossilblock ist 3,5 Meter lang, 3,5 Meter breit und 2,5 Meter tief.« Oder, in Fuß, zehn auf zehn auf sieben. Das Gewicht betrug 1,25 Tonnen oder, wie Carter rasch überschlug, rund 3300 Pfund. Egal, welche Maßstäbe man anlegte, es war ein gewaltiges und gewaltig schwerfälliges Exemplar.

Carter legte das letzte Foto zurück und nahm noch einmal Joes Brief zur Hand. Die letzte Zeile lautete: »Es ist meine beachtliche Meinung, dass die ungewöhnlichen Merkmale nahelegen, dass es sich um einen Fund von großer wissenschaftlicher Bedeutung handelt.«

Das konnte man wohl sagen.

Carter lehnte sich in seinem Sessel zurück und sah auf die Uhr. Zu seiner Überraschung war es bereits fast Mitternacht. Dann fiel sein Blick erneut auf das Foto, das im Inneren der Höhle gemacht worden war, dasjenige, auf dem die Kreatur sich aus dem Felsen herauszugraben schien. Es war ein Bild, von dem er wusste, dass er es nie wieder würde vergessen können. Er stand auf und schaltete das Licht aus. Doch bevor er ins Bett ging, hielt er inne und drehte das Foto um, so dass es mit der Vorderseite zum Tisch zeigte.

Warum, fragte er sich, irgendwie von sich enttäuscht, hatte er das getan?

6. Kapitel

»Es muss schwierig für Sie sein, nach so vielen Jahren in der Ferne wieder zurückzukommen«, sagte Dr. Neumann, legte ihre Finger aneinander und musterte Ezra mit ihrem vorsichtig neutralen Blick. »Wie geht es Ihnen damit?«

Wie es ihm damit ging? Gut, dachte Ezra. Ganz gut – solange sich ihm niemand in den Weg stellte und man ihn in Ruhe ließ, damit er tun konnte, was er tun musste. »Es ist eine Umstellung«, sagte er in der Annahme, es sei eine vollkommen befriedigende Antwort, weder negativ noch positiv.

»Natürlich.« Sie lächelte und schwieg, aber er kannte den Trick. Das war ihr Psychotherapeutenlächeln, mit dem sie einen dazu bringen wollte, sich ihr anzuvertrauen. Das Schweigen sollte mit der Zeit so unangenehm werden, dass man es unbedingt brechen wollte und dabei alle möglichen Geheimnisse ausplauderte. Nein, es hatte sich nicht viel geändert. Nicht einmal die abstrakten Drucke an den Wänden ihrer Praxis, das leise Summen der Heizung oder die Position der beiden Sessel, in denen sie saßen. Er fühlte sich, als sei er zwanzig Jahre in der Zeit zurückgereist, bis zu dem Moment, in dem er ihr zum ersten Mal begegnet war. Kurz nachdem der Direktor der Horace Mann School seine Eltern darüber informiert hatte, dass Ezra, trotz seiner astronomisch guten Werte beim IQ-Test und allen anderen üblichen Leistungstests, sich nicht, nun ja, so recht anpasste. Weder akademisch noch sozial.

»Wie kommen Sie mit Ihrem Vater zurecht? Hat sich Ihre Beziehung zu ihm verbessert?«

»Wir gehen einander aus dem Weg«, sagte Ezra, »so gut es geht.« Das entsprach der Wahrheit. Sein Vater hielt sich entweder in seinem Büro in der Madison Avenue auf, wo er herummauschelte und Ränke schmiedete, um sich auch noch die letzten Fitzelchen der Stadt unter den Nagel zu reißen, die er nicht bereits besaß. Oder er war auf einer Veranstaltung der feinen Gesellschaft, zu der Kimberly ihn mitschleifte.

»Sie haben jetzt doch auch eine Stiefmutter, war es nicht so? Ich meine mich zu erinnern, in der Zeitung gelesen zu haben, dass Ihr Vater wieder geheiratet hat.«

Jetzt, dachte Ezra, wurde sie unaufrichtig. Natürlich wusste sie, dass sein Dad wieder geheiratet hatte. Wahrscheinlich wusste sie über sein Treiben besser Bescheid als Ezra. In der ganzen Zeit in Israel hatte er penibel alle New Yorker Zeitungen gemieden, und er hatte nie jemandem verraten, dass er Sam Metzgers Sohn war, es sei denn, es ließ sich nicht vermeiden.

»Ja, er hat eine neue Frau. Ihr Name ist Kimberly«, sagte er. Nervös umklammerten seine Finger die Plastiktüte in seinem Schoß. Wann bekäme er endlich die Gelegenheit, auf den wahren Grund zu sprechen zu kommen, warum er diesen Termin vereinbart hatte?

»Wie ist Ihr Verhältnis zu ihr?«

Ezra konnte beinahe überhaupt nicht antworten. Er war dieser Sache so überdrüssig, wollte das alles nicht durchexerzieren, wollte keine Fragen über seine Familie, seine Gefühle und seine Zukunft beantworten. Er hatte sich diesen Termin geben lassen, weil seine Medikamente zur Neige gingen, und solange er kein neues Rezept bekäme, würde es ihm verdammt schwerfallen, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Oder zu schlafen. Oder seine Stimmungsumschwünge in den Griff zu bekommen. Er brauchte einfach Nachschub.

»Sie ist in Ordnung. Sie sehe ich auch nicht oft.« Und weil er glaubte, dass es der guten Frau Doktor gefallen würde, und weil er das Gefühl hatte, ein wenig mehr Interesse zeigen zu müssen, fügte er hinzu: »Es ist eher so, als sei da plötzlich eine ältere Schwester im Haus. Sie ist nur ein paar Jahre älter als ich.«

»Tatsächlich?«, sagte Dr. Neumann und nickte langsam. »Wie interessant.«

Verdammt, dachte Ezra. Sie hat angebissen. Jetzt hatte er unbeabsichtigt schlafende Hunde geweckt. Neumann wäre glatt in der Lage, diese Bemerkung mehrere Sitzungen lang auszuschlachten. Und wann würde er sie endlich da haben, wo er sie schon jetzt haben wollte?

»Was meinen Sie, welche Auswirkungen das auf Ihre Beziehung zu Ihrem Vater hat? Wenn Sie Kimberlys Einfluss darauf beschreiben müssten, würden Sie eher sagen, sie baut eine Brücke oder eine Mauer zwischen Ihnen beiden?«

»Auf diese Weise habe ich noch nie darüber nachgedacht«, sagte Ezra und versuchte, seine Stimme frei von Geringschätzung zu halten. Er hatte keine Ahnung, wo diese Fragerei hinführen sollte, und Neumann konnte bis in alle Ewigkeit mit diesen dämlichen Metaphern und sinnlosen Fragen weitermachen. Erneut fingerte er an der Tasche auf seinem Schoß herum, und dieses Mal geruhte sie, davon Notiz zu nehmen.

»Ich habe das Gefühl, dass Sie abgelenkt sind, Ezra«, sagte sie mit einer gewissen Schärfe. »Dass es etwas gibt, das wir zunächst benennen und klären müssen. Was ist in der Tasche, die Sie da festhalten?«

Ezra versuchte, nicht zu ungeduldig zu wirken, als er hastig die Schleife der Plastiktüte löste. »Das hier sind die Medikamente, die ich in Israel bekommen habe«, sagte er, holte die Gläschen heraus und stellte sie auf den kleinen Tisch neben Dr. Neumanns Sessel. Die Etiketten waren auf der einen Seite auf Hebräisch und auf der anderen Seite auf Englisch beschriftet. »Alles, was ich brauche, sind neue Rezepte.«

Dr. Neumann nahm ihre Lesebrille vom Tisch, setzte sie auf und nahm die Fläschchen in die Hand. »Ihr Arzt dort drüben hieß Stern?«

»Ja, Herschel Stern.«

»Ich würde gerne Kontakt mit ihm aufnehmen und seine Berichte lesen.«

»Kein Problem. Ich kann Ihnen seine Nummer geben.«

»Aber wahrscheinlich kann ich Ihnen fürs Erste ein neues Rezept ausstellen«, sagte sie und warf einen Blick auf das, was er als das Glas mit den Xanax erkannte. »Wir werden die Dosis neu einstellen, sobald wir in der Therapie weitergekommen sind.«

Soweit es Ezra betraf, waren sie bereits genau an dem Punkt, der ihn interessierte. Aber er wusste, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, um das zu sagen. Als sie nach ihrem Block griff und die Rezepte ausfüllte, vollführte sein Herz einen Luftsprung.

Draußen lehnte Onkel Maury rauchend an der Parkuhr. »Wie ist es gelaufen?«, fragte er und schmiss die Zigarette in den Gulli. »Bist du endlich gesund?«

»Ich werde es sein«, sagte Ezra und wedelte mit dem Bündel Rezepte herum.

Auf dem Heimweg hielten sie bei der ersten Apotheke, an der sie vorbeikamen, und während seine Medikamente geholt wurden, streifte Ezra durch den Laden und suchte all die anderen Dinge auf seiner Liste zusammen, von OP-Handschuhen und Isopropylalkohol bis zu Wattestäbchen und Talkumpuder. Der Rest der Sachen, die er brauchte, ein Zeichentisch und ein Computerstuhl, durchsichtige Schutzhüllen, Schablonenmesser und Bürsten aus Zobelhaar sowie ein Vergrößerungsglas, war heute Morgen geliefert worden. Es musste nur noch ordentlich aufgebaut und anschließend benutzt werden. Er konnte es kaum abwarten, anzufangen.

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