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Carter verstand bereits, warum Joe so verwirrt war. Aber warum unterzogen sie die Probe nicht einem einfachen Carbon-14-Test und warteten ab, was dabei herauskam? Damit hätte Carter angefangen.

Doch offensichtlich hatte Joe das auch getan. Schon im nächsten Absatz las Carter: »Wie man es erwarten darf, haben wir die vorschriftsmäßigen Radiocarbon-Datierungen durchgeführt. Da wir hier keinen Zugang zu einem Beschleuniger-Massenspektrometer haben« – kurz AMS, die, wie Carter wusste, außerhalb der Vereinigten Staaten kaum zu finden waren –, »haben wir fünf Gramm reinen Kohlenstoff vom Ausgangsmaterial isoliert und wiederholt Untersuchungen damit durchgeführt. Die Laborberichte dieser Testreihe sind beigefügt, siehe Anhang A.«

Carter blätterte in den Unterlagen, bis er den Anhang gefunden hatte. Es war die typische Darstellung, ein komplexes Diagramm mit den elementaren Zusammensetzungen und Zerfallsraten der Isotope, aber Carters Finger flog über die Seiten, bis er zu den Ziffern kam, nach denen er gesucht hatte, der abschließenden Altersschätzung. Und diese Zahl, das stimmte, ergab absolut keinen Sinn. Die Methode funktionierte, wenn sie funktionierte, weil das Radiocarbon-Isotop Carbon-14, das in allen organischen Stoffen vorhanden war, egal ob es sich um Holz, Pflanzenfasern, Muscheln oder Tierknochen handelte, gleichmäßig alle 5730 Jahre zu fünfzig Prozent zerfiel. Wenn man über eine ausreichend große Probe verfügte, wie beispielsweise die fünf Gramm, die Joe hatte, bekam man eine ziemlich genaue Schätzung über das Alter selbst der frühesten prähistorischen Funde. Die berühmten Höhlenmalereien von Lascaux zum Beispiel wurden auf 15 000 bis 17 000 Jahre geschätzt. Es gab immer eine kleine Fehlerspanne, da Carbon-14 im Laufe der Geschichte nicht immer in gleichen Mengen produziert worden war, so dass die Radiocarbon-Datierung noch »korrigiert« oder »kalibriert« werden musste, um den chronologischen Schwankungen Rechnung zu tragen. Als Ergebnis blieb eine Diskrepanz von vielleicht ein paar hundert, in seltenen Fällen von ein paar tausend Jahren.

Doch selbst bei einem Spielraum von ein paar tausend Jahren ergaben Joes Berechnungen keinen Sinn, besonders dann nicht, wenn er immer noch erwog, dass es sich bei dem Fund möglicherweise um einen Hominiden handelte. Dieses Fossil vom Lago d’Averno hatte laut der Radiocarbon-Datierung vor Millionen von Jahren gelebt, lange bevor die allerersten Vorfahren der Menschheit auf der Erde herumliefen oder auch nur krochen.

Obwohl er noch nicht genau bestimmen konnte, wo sich der Fehler eingeschlichen hatte, entschied Carter, dass die Ergebnisse so fehlerhaft sein mussten, dass sie nutzlos waren. Es blieb nichts anderes übrig, als sie vollkommen außer Acht zu lassen.

Er blätterte zurück zum Brief. Dort räumte Joe ebenfalls ein, dass er mit der üblichen Radiocarbon-Methode nicht weiter vorankam.

Als nächsten Schritt hätte Carter die umgebende Gesteinsformation der Fundstelle analysiert, um anhand des Alters und der Zusammensetzung des Felsens, in den der Fund eingebettet war, herauszufinden, um was für ein Fossil es sich handelte oder handeln könnte. Offensichtlich war Joe zu demselben Schluss gekommen. »Die Ergebnisse der Untersuchung des umgebenden Felsens befinden sich im Anhang B.«

Wieder überprüfte Carter Joes Arbeit, und wieder konnte er keine offenkundigen Fehler oder Versäumnisse entdecken. Joe hatte die Arbeiten genau nach Lehrbuch erledigt. Trotzdem waren die Ergebnisse auch dieses Mal absolut rätselhaft. Das Felsgestein war vulkanischen Ursprungs und stark mit Pyroxenen durchsetzt, so viel war klar. Doch dem erstaunlich hohen Anteil an Silizium, seiner Streifung und Dichte nach zu urteilen, war es aus einem nahezu unglaublich tiefen und heißen Bereich der Erdkruste spiralförmig an die Oberfläche gedrückt worden. Im Inneren des Felsens, gleichsam als Mahnung an diesen gewundenen Weg von der Asthenosphäre durch die äußere Kruste hindurch, fand sich eine ungewöhnlich hohe Konzentration eingeschlossener, flüchtiger Gase. Carter ließ sich in seinem Sessel zurücksinken und dachte kurz darüber nach. Im Endeffekt hatten sie es hier mit einer unermesslich beständigen und dichten Gesteinsprobe zu tun, die wie eine selbstgebastelte Bombe vor den Augen explodieren konnte, wenn man sie nicht richtig behandelte. Wie eine ziemlich gewaltige selbstgebastelte Bombe.

Kein Wunder, dass Joe zögerte weiterzumachen, ehe er sich ausgiebig mit Kollegen beraten hatte.

Das Problem lag darin, einen Weg zu finden, das Fossil in einem möglichst intakten Zustand aus dem explosiven Gestein zu entfernen, mit dem es unter Umständen unlösbar verbunden war, ohne die Bombe zu zünden.

»In der Pappmappe«, schrieb Joe, »findest du Fotos von dem Fossil in situ

Darauf hatte Carter gewartet. Als die Fotos ihm entgegengefallen waren, hatte er sie absichtlich wieder zurückgelegt. Er wollte sie nicht ansehen, ehe er das übrige Material gesichtet hatte und wusste, womit er es zu tun hatte. Inzwischen wusste er, was bereits feststand, und was, in diesem besonderen Fall, noch in der Schwebe hing, und erst jetzt war er bereit, einen Blick auf die sichtbaren Beweise zu werfen und sich selbst ein Bild davon zu machen. Er beugte sich vor und öffnete die Mappe auf dem Tisch.

Das oberste Bild war so wunderschön, dass es aus einer Reisebroschüre hätte stammen können. Im Vordergrund sah man nichts als blaues Wasser mit kleinen Wellen, und im Hintergrund eine Wand aus schroffen grauen Klippen mit vom Wind gebeugten Zypressen. Auf Seehöhe lag der Eingang einer Höhle, die immer noch teilweise unter Wasser lag und auf dieser Aufnahme kaum zu erkennen war. Carter schaute auf die Rückseite des Fotos, wo Joe das Datum notiert und dazugeschrieben hatte: »Lago d’Averno, Höhle, aus etwa 150 Metern Entfernung.«

Carter legte das Bild mit der Vorderseite nach unten auf den Tisch und nahm das nächste zur Hand.

Bei diesem hatte der Fotograf sich der Höhle schon viel weiter genähert. Die Öffnung war rau und zerklüftet, und an einer Seite waren die Köpfe zweier Taucher mit Taucherbrillen und Schnorcheln zu sehen. Auf der Rückseite stand »Eingang zur Höhle«, was kaum nötig gewesen wäre, doch in Klammern war hinzugefügt: »Wusstest du, dass ich tauchen kann?« Carter lächelte. Nein, dass Joe tauchen konnte, war ihm neu.

Die nächsten Fotos zeigten das Innere der Höhle, die offensichtlich von einer starken Taschenlampe beleuchtet worden war. Die nassen Wände und Decken waren in helles Licht mit scharfem Schatten getaucht, und der Fels glitzerte wie Pyrit und Diamanten. Von dem Fossil hingegen sah Carter nichts.

Er nahm sich das nächste Bild, und dieses Mal stockte ihm der Atem. Im harten hellen Licht der Lampe, die teilweise in der linken oberen Ecke zu erkennen war, konnte er jetzt die vom Felsen eingeschlossenen Knochen erkennen. Er hatte Tausende solcher Fotos gesehen, von Fossilien aus allen Teilen der Welt, aber so etwas war ihm noch nie untergekommen. Unwillkürlich erinnerte ihn der Anblick an Michelangelos Jüngstes Gericht in der Sixtinischen Kapelle. Dieses Fossil mit den knotigen langen Klauen, oder Krallen, oder Fingern beschwor die Vorstellung von sich windenden Figuren herauf, die sich in der Phantasie des Künstlers in der Hölle tummelten. Es war fast, als läge diese Kreatur im Sterben, leide über das erträgliche Maß hinaus und kämpfe darum, wieder freizukommen. Ein Teil der Gliedmaßen war erkennbar oder zumindest als vager Umriss auszumachen, aber das war auch schon alles. Gleichwohl spürte Carter immer noch die höchst instinktive und überwältigende Reaktion der Kreatur. Sieh an, dachte Carter, ich benutze dasselbe Wort wie Joe.

Es gab noch mehr Fotos, von verschiedenen Winkeln aus aufgenommen, aber sie zeigten nichts Neues mehr von dem Fossil. Der Rest war und blieb im Felsen verborgen. In der nächsten Bildfolge war das Fossil selbst sorgfältig verhüllt und zugedeckt, während Arbeiter in Taucheranzügen dabei waren, einen Teil der Wand zu markieren. Sie bohrten Löcher, um den Druck zu mindern, und lockerten den Felsen mühselig mit Anschlaghämmern, elektrischen Bohrern und Handpickeln. Die letzten Bilder zeigten, wie ein Forschungsschiff, auf dessen Achterdeck ein Kran montiert war, die Felsplatte fortschleppte, die inzwischen durch eine Plattform aus sechs riesigen gelben Pontons gesichert war. Joe und der andere Taucher, ohne Masken, aber immer noch im Taucheranzug, standen links und rechts der Felsplatte. Sie hatten die Beine gespreizt und die Hände auf den Felsen gestützt, wie Großwildjäger neben der erlegten Trophäe.

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