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Ben und Carter waren bei dieser Beziehung nur Anhängsel, und das wussten beide. Während ihre Frauen lachten und schwatzten und sich weiterhin leise berieten, suchten die Männer höflich nach einem Thema, über das sie reden könnten. Es war nicht so, dass sie einander nicht gemocht hätten. Sie waren sich sehr wohl sympathisch, aber ihre Lebensläufe und Berufe, selbst ihre Interessen waren ziemlich verschieden.

Ben entstammte einer begüterten Familie aus dem Main Line Viertel in Philadelphia, hatte in Exeter studiert, als Jahrgangsbester an der Wharton Business School seinen Abschluss gemacht und legte seitdem eine steile Karriere als Investmentbanker hin.

Carter nannte seine Familie mittlerweile »bequeme Unterschicht«, natürlich nur, wenn sie nicht in Hörweite waren. Sein Vater hatte einen Milchlaster einer Molkereikette in Nord-Illinois gefahren, und seine Mutter war zu Hause geblieben, um Carter und seine vier Brüder und Schwestern großzuziehen. Einen Großteil seiner Kindheit hatte er krank zu Hause gelegen. Als kleiner Junge hatte er die üblichen Kinderkrankheiten durchgemacht, Mumps, Masern, Windpocken, aber er hatte auch unter etwas gelitten, das eine Art Asthma zu sein schien. Er sagte stets, »zu sein schien«, denn als er ins Teenageralter kam, verschwanden die Beschwerden auf mysteriöse Weise. Seitdem hatte er sich Mühe gegeben, die verlorene Zeit wieder wettzumachen, indem er kletterte, Ski fuhr und die ganze Welt bereiste. Zu jedermanns Erstaunen, einschließlich seines eigenen, bekam er ein großzügiges Stipendium in Princeton. Er packte die Gelegenheit beim Schopfe und blickte nie zurück.

Doch erst in den letzten Jahren, nachdem er seine bemerkenswerten Funde auf Sizilien gemacht hatte, war er in die Riege der Spitzenkräfte in seinem Fachgebiet aufgestiegen. Der Lehrstuhl, den Carter an der New York University innehatte, war ein heißbegehrter Posten, was zum Teil daran lag, dass Mr Kingsley, nach dem der Lehrstuhl benannt war, eine hinreichend ausgestattete Stiftung hinterlassen hatte, um dem Lehrstuhlinhaber ein respektables Gehalt zahlen zu können. Carter war nicht wegen des Geldes in das Knochengeschäft eingestiegen, das würde niemand tun, der bei klarem Verstand war. Aber letztendlich, so musste er einräumen, hatten die Knochen ihm ziemlich viel Glück gebracht.

Während er und Ben von Büchern und Filmen auf die Außenpolitik kamen, fiel es Carter immer schwerer, sich zu konzentrieren. Er tat sein Bestes, um seinen Teil zur Unterhaltung beizutragen, aber mit den Gedanken kehrte er immer wieder zu dem Päckchen von FedEx zurück, das unter seinem Stuhl lag. Am liebsten wäre er nach Hause gerannt, hätte den Umschlag aufgerissen und herausgefunden, wovon Russo geredet hatte. Als Carter als erster Forscher die Knochengrube entdeckt und ausgegraben hatte, war Giuseppe Russo, damals noch Doktorand der Paläontologie, buchstäblich seine rechte Hand gewesen. Einmal, als Carters Seil sich unerklärlicherweise aus dem Karabiner gelöst hatte, hatte Joe ihn in letzter Sekunde am Kragen seines Ponchos gepackt und hinauf auf festen Boden gezerrt. Carter konnte sich noch gut an das Gefühl erinnern, wie er über einem grausigen Haufen prähistorischer menschlicher Knochen mitten in der Luft im engen Schacht geschwebt hatte, den sie mehr als zwanzig Meter tief in die Erde gegraben hatten. Ohne Joe hätte er sich damals zu den anderen sterblichen Überresten gesellt, genauso mausetot.

Als die Dessertkarte kam, waren zum Glück alle viel zu vollgegessen, um auch nur darüber nachzudenken. Carter betete, dass niemand noch einen Kaffee oder einen Drink bestellen würde, und sein Flehen wurde erhört. Ben sagte tatsächlich, er müsste noch einmal ins Büro. Draußen trennten sich ihre Wege, und Beth hakte sich bei Carter unter, als sie nach Hause gingen.

»Also«, sagte sie. »Ich sterbe fast vor Neugier. Was ist in diesem geheimnisvollen Umschlag?«

»Das werde ich wissen, wenn wir zu Hause sind«, sagte er. »Aber er ist von Joe Russo.«

»Der Typ, mit dem du auf Sizilien zusammengearbeitet hast?«

»Ja. Er sagt, er habe etwas gefunden, etwas, das er für merkwürdig genug hält, damit ich einen Blick darauf werfen soll.«

»Möchte er, dass du hinfliegst?«, fragte sie und klang besorgt.

»Soweit ich weiß nicht. Aber meinst du nicht, dass du dort genügend Renaissance-Kunst findest, um dich ein paar Wochen lang zu beschäftigen?«

»Das ist es nicht«, entgegnete sie, als sie an der Bleecker Street an der Ampel warteten. »Ich könnte im Moment nicht aus der Galerie weg, und wenn du allein fährst, wie sollen wir dann …?«

Carter begriff. »Ach so, das. Ich könnte dir ein paar Proben im Kühlschrank dalassen.«

»Du bist immer so romantisch. Übrigens, das wollte ich dir noch sagen: Dr. Westons Praxis hat angerufen. Nächsten Samstag hast du einen Termin. Morgens.«

Um seine Zeugungsfähigkeit testen zu lassen. Carter dachte mit Schrecken daran, während sie die letzten paar Blocks nach Hause gingen. Er spürte bereits Versagensängste in sich aufsteigen.

Ihre Wohnung im zweiten Stock eines alten roten Backsteingebäudes wies direkt auf den Washington Square Park. Bei den irrsinnigen Immobilienpreisen in Manhattan würde sie normalerweise mehrere tausend Dollar im Monat kosten. Aber zum Glück gehörte das Haus der Universität, welche die Wohnungen günstig an Fakultätsmitglieder vermietete.

Carter schloss die Tür auf und schaltete das Licht an, während Beth ihren Mantel an den hölzernen Garderobenständer im Foyer hängte.

»Willst du zuerst unter die Dusche?«, fragte sie.

»Nein, geh du nur«, sagte er und riss bereits den Umschlag von FedEx auf.

»Das hatte ich mir schon gedacht.«

Carter ging ins Wohnzimmer und ließ sich in seinen Lieblingssessel fallen, einen abgenutzten Lederlehnsessel, den er seit seiner Studentenzeit besaß. Er riss den Umschlag beinahe in zwei Hälften. Aus einer Mappe rutschten ein paar Hochglanzbilder auf seinen Schoß, und er musste rasch danach greifen, ehe sie zu Boden fielen. Mit dem Fuß zog er den Couchtisch näher heran und schüttete alles auf die marmorierte Tischplatte.

Obenauf lag ein getippter Brief mit dem Briefkopf der Universität von Rom, nach dem er als Erstes griff. »Dottore«, begann er. So hatte Joe ihn stets angeredet. »Ich schicke dir zur Kenntnisnahme alle beigefügten Proben. Und meine Grüße. Und jetzt erzähle ich dir die Geschichte von diesen Sachen, die dich, wie ich denke, sehr interessieren wird, und dann reden wir darüber.« Sein Englisch hatte sich enorm verbessert, hatte jedoch immer noch diese wunderbar gestelzte Art. Joe benutzte zum Beispiel keine Kurzformen, aber bisher war das Schreiben vollkommen verständlich. Carter überflog den Rest des sechsseitigen, einzeilig bedruckten Briefes, ehe er wieder zum Anfang zurückblätterte.

Die Schilderung begann, seltsam genug, mit einem Bericht über die Wasserstände eines Ortes namens Lago d’Averno, von dem Carter noch nie gehört hatte. Offensichtlich war der Wasserspiegel des Sees auf den tiefsten Stand seit vielleicht mehreren Millionen Jahren gefallen. Eine Höhle, die die ganze Zeit unter Wasser gelegen hatte, möglicherweise sogar Hunderte von Metern tiefer als heute, war durch die seismischen Aktivitäten in dieser Region langsam nach oben geschoben und so zum ersten Mal zugänglich gemacht geworden. Ein junges amerikanisches Paar waren die Ersten, die zufällig darauf stießen. In Klammern hatte Joe hinzugefügt, dass der Mann dort verunglückte und ertrank.

In dieser Höhle hatte man eine versteinerte Kreatur entdeckt. Joe entschuldigte sich für den Gebrauch des vagen Begriffs Kreatur, erklärte jedoch, dass genau diese Ungewissheit der Grund dafür sei, warum er seinen alten Freund Carter in erster Linie kontaktiere. »Aus den Teilen des Fossils, die wir sehen können, ist es nicht klar, womit wir es zu tun haben.« Es gäbe etwas, das aussähe wie erweiterte Klauen, fuhr der Brief fort, was die Vermutung nahelegte, dass es sich um ein Raubtier mittlerer Größe handelte, aber diese Klauen schienen ebenso über deutlich ausgebildete Mittelhandknochen und Fingerglieder zu verfügen. Merkmale also, die nur auf einen hominiden Vorfahren hindeuten konnten. »Aber ein Hominid, der im evolutionären Zeitplan viel zu alt ist, um möglich zu sein.«

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