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»Es muss wichtig für dich sein, wenn du sogar den Anruf zahlst.«

Russo lachte. Darüber hatten sie während der Ausgrabungen auf Sizilien, bei denen sie sich kennengelernt hatten, ständig Witze gemacht. Russos Budget war so knapp bemessen gewesen, dass er nicht einmal Essen und Wasser davon bezahlen konnte.

»Ich habe jetzt einen richtigen Job, an der Universität in Rom.«

»Gratuliere! Das ist großartig!«

»Darum rufe ich auch an.«

»Soll ich rüberkommen und eine Vorlesung halten? Beth wäre ganz aus dem Häuschen. Sie sucht ständig nach einem Vorwand, um nach Italien zu reisen.«

»Nein. Keine Vorlesung. Das mache ich selbst.«

»Okay, ein Nein als Antwort kann ich akzeptieren.« Aber warum rief er dann an, und dann noch so hartnäckig?

»Hast du mein Päckchen nicht bekommen?«, fragte Russo. »Die Proben, die ich dir mit Federal Express geschickt habe?«

»Nein, habe ich nicht.«

»Ich habe es dir letzte Woche ins Büro in deinem Fachbereich geschickt.«

Mist. »Ich habe seit ein paar Tagen nicht mehr nach der Post geschaut.«

In der Leitung knisterte es, trotzdem hörte Carter Joes glucksendes Lachen.

»Du musst es holen«, sagte Russo, »und es lesen. Bald. Es ist sehr wichtig.«

»Ich werde es einsammeln, sobald ich das Labor verlasse. Was ist darin?«

Entweder war die Leitung einen Moment ganz ausgefallen, oder Joe überlegte, was er erwidern sollte. »Wir haben hier etwas gefunden«, sagte er schließlich. »Um genau zu sein, waren es eigentlich zwei Amerikaner, die es zuerst entdeckt haben. Es ist ein … sehr interessanter Fund. Ich denke, wir brauchen deine Hilfe.«

Joe hatte Carter dabei geholfen, die Überreste von Europas ersten Bewohnern aus der »Knochengrube« auf Sizilien auszugraben. Er war kein Mann, der haltlose Behauptungen aufstellte, und wenn er etwas als »sehr interessanten Fund« bezeichnete, dann wusste Carter, dass es sich möglicherweise um eine richtig große Sache handelte. Carter spürte das Prickeln der Vorfreude am Hinterkopf.

»Was soll ich tun? Mir das Päckchen ansehen und dich morgen anrufen?«

»Ja! Meine Nummer ist dabei. Ruf mich um sechs Uhr abends an, römische Zeit. Du wirst es selbst wollen, mein Freund«, sagte er mit einem leisen Auflachen. »Du wirst nicht warten wollen.«

Carter konnte es jetzt schon kaum noch abwarten. Im Stillen schwor er sich, dass er sein Postfach nie wieder so sträflich vernachlässigen würde. Sobald er aufgelegt hatte, räumte er die gespendeten Fossilien weg, wobei er sich aus lauter Gewohnheit streng an die Vorschriften hielt, dann schnappte er sich seine Jacke und ging zur Tür.

Mitchell kam gerade herein, in der Hand eine Tüte von Burger King. »Hey, Bones, warum so eilig?«

»Hab was in meinem Büro vergessen«, sagte Carter, während er sich an ihm vorbeidrückte.

»Viel Glück«, sagte Mitchell, »wahrscheinlich haben sie schon übers Wochenende dichtgemacht.«

Genau das befürchtete Carter. »Du hattest übrigens recht mit dem Kieferfragment«, rief er über die Schulter, als er um die Ecke bog. »Es ist ein Smilodon

Das Büro des Fachbereichs war tatsächlich bereits geschlossen, als Carter außer Atem dort ankam. Durch die Glastür konnte er sein Postfach sehen, den obersten Schlitz im hölzernen Schrank, bis zum Platzen vollgestopft. Er erkannte sogar einen dieser unverwechselbaren FedEx-Umschläge mit den dicken Blockbuchstaben ganz oben auf dem Stapel. Entgegen aller Vernunft rüttelte er am Türgriff, aber es war natürlich abgeschlossen.

In diesem Moment hörte er den Hausmeister, Hank, der irgendwo im Korridor seinen Mopp in einen Eimer tauchte.

»Hank, sind Sie das?«, rief er laut und bog um die Ecke.

Hank blickte auf, den Mopp immer noch im Blecheimer. »Was ist los, Professor?«

»Können Sie mir einen riesigen Gefallen tun? Können Sie das Fachbereichsbüro kurz für mich aufschließen?«

»Sie wissen doch, dass ich das nicht darf.«

»Ja, ich weiß, Hank, und normalerweise würde ich Sie auch nie darum bitten. Aber im Büro ist etwas, das ich unbedingt heute Abend noch haben muss.«

Hank atmete hörbar aus, strich mit der Hand über seinen kahlen Schädel und schob schließlich den Eimer samt Mopp an die Wand. »Ich habe das nie getan, verstanden?«

»Nie.«

Hank trottete zur Bürotür, sperrte sie auf und wartete, während Carter sich den FedEx-Umschlag aus seinem Postfach schnappte. Er war dick und schwer, und Carter überprüfte den Absender, um sich zu vergewissern, dass es der richtige war. Tatsächlich, er kam von Joe Russo aus Rom. »Das ist es, was ich gebraucht habe«, sagte er und zeigte Hank das Päckchen. »Sie haben mir das Leben gerettet.«

Hank nickte und schloss das Büro wieder ab. »Allerdings.«

Am liebsten hätte Carter den Umschlag an Ort und Stelle aufgerissen und den Inhalt begutachtet und gelesen, doch inzwischen war es fast sieben, und er war mit Beth und ihren Freunden Abbie und Ben Hammond in Minetta’s Tavern zum Abendessen verabredet. Der Briefumschlag würde warten müssen, doch zumindest hielt er ihn jetzt in den Händen. Andernfalls hätten die Chancen nicht besonders gut gestanden, dass er in der Nacht, oder eher das ganze Wochenende über, Schlaf gefunden hätte.

Das Restaurant war nur ein paar Blocks entfernt, und als er ankam, entdeckte er Beth und die Hammonds an einem Tisch in der Nähe der Bar, wo sie sich einen Vorspeisenteller teilten.

»Gut, dass ihr nicht gewartet habt«, sagte Carter, beugte sich vor und küsste Beth auf die Wange.

»Das wäre uns nie in den Sinn gekommen«, sagte Ben und spießte eine Olive auf.

Carter lachte, zog den freien Stuhl hervor und setzte sich. Auf dem Tisch stand eine halbleere Karaffe mit Wein, und er schenkte sich ein Glas ein. Ben trug immer noch seinen Banker-Anzug, und Abbie, die bei einer Agentur arbeitete, deren Name Carter sich nie merken konnte, trug ein Kostüm, rot mit weißen Biesen an Revers und Kragen. Auf Carter wirkte sie, als wollte sie für eine Rolle als Gattin des Weihnachtsmanns vorsprechen.

»Was ist in dem Päckchen?«, fragte Abbie. »Du klammerst dich daran, als sei es das Gewinnerlos der Fernsehlotterie.«

»Ach, nur etwas Arbeit für später.«

Aber Beth, die in ihm lesen konnte wie in einem offenen Buch, legte den Kopf schräg und lächelte neugierig. Sie wusste, dass mehr dahintersteckte.

»Was ist das hier?«, fragte Carter in der Hoffnung, das Thema zu wechseln, und deutete auf einen Haufen Fotos, die auf dem Tisch verteilt lagen. Auf einem erkannte er eine kurvenreiche Landstraße, auf dem nächsten ein altes Farmhaus mit breiter Veranda.

»Sie haben sich ein Landhaus gekauft«, sagte Beth begeistert. »Im Norden.«

»In Hudson«, erklärte Abbie stolz. »Mit anderthalb Hektar Land und einer alten Apfelplantage.«

»Nicht zu vergessen die Scheune, die demnächst umfällt«, fügte Ben hinzu.

»Super«, sagte Carter, besah sich die Fotos vom Haus, das klein, aber gut erhalten wirkte. In der Ferne sah man eine niedrige Bergkette. »Ich wollte schon immer mal öfter aus der Stadt raus, aber ich wusste nie, wohin.« Er schaute Ben und Abbie an und sagte: »Vielen, vielen Dank. Ich bringe auch meine eigenen Marshmallows mit.«

»Und vergiss die Cracker und die Schokolade nicht«, sagte Abbie.

Beth hob ihr Glas, um einen Toast auszubringen. »Auf die Großgrundbesitzer!«

»Salud!«, sagten alle und stießen an, als sich der Kellner mit den Speisekarten näherte.

Nachdem sie sich die Tageskarte angesehen und bestellt hatten, erzählten die Hammonds noch mehr von dem Haus. Sie waren schon seit Monaten auf der Suche. »Wir brauchen unbedingt einen Platz außerhalb der Stadt«, sagte Abbie, »um mal abzuschalten.«

Carter glaubte allerdings, den wahren, unausgesprochenen Grund zu kennen, weshalb sie sich das Haus gekauft hatten. Es sollte von den Schwierigkeiten ablenken, die sie damit hatten, ein Kind zu bekommen, was er sehr gut nachvollziehen konnte. Und tatsächlich, schon bald unterhielten Beth und Abbie sich über Dr. Weston. Abbie hatte ihn zuerst konsultiert, und jetzt steckten sie die Köpfe zusammen und sprachen konzentriert miteinander. Nicht zum ersten Mal bewunderte Carter die Intensität ihrer Freundschaft. Soweit er beurteilen konnte, gab es nichts unter der Sonne, über das Beth und Abbie nicht miteinander reden konnten, und vermutlich gab es auch nichts, worüber sie nicht schon geredet hatten. Im Barnard-College waren sie Zimmergenossinnen gewesen, und seitdem waren sie einander die beste Freundin. Selbst als Beth für ein Jahr nach England gegangen war, um am Cortauld College Kunstgeschichte zu studieren, hatte Abbie ein Sloan-Stipendium an der London School of Art ergattert. Ihr ursprüngliches Ziel war es gewesen, selbst Künstlerin zu werden, eine abstrakte Expressionistin, die nächste Lee Krasner. Aber das hatte nicht so richtig geklappt. Stattdessen hatte sie sich schließlich für einen lukrativen, aber geistig weniger anspruchsvollen Posten als Art Director in einer Werbeagentur entschieden.

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