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»Und wer, glaubte er, war herausgekommen?«

Carter zögerte. Er wusste, wohin das führen könnte. Vielleicht dachte Finley, dass Donald Dobkins den Brandstifter erkannt hatte und dieser zurückgekommen war, um sich des Zeugen zu entledigen. Aber Carter wusste, dass es nicht so gewesen war. »Wenn Sie es genau wissen wollen, er sagte, er habe einen nackten Mann aus Licht gesehen«, antworte Carter. Das würde zumindest der Befragung in diese Richtung ein Ende bereiten.

Doch Finley wirkte merkwürdigerweise nicht überrascht. »Passt zu der allgemeinen Beschreibung.«

Passte zu was?

»Obwohl Mr Russo immer wieder das Bewusstsein verlor, als er hier rausgebracht wurde«, fügte der Detective hinzu, »murmelte er etwas ganz Ähnliches.«

»Ach ja?«

Der Detective nickte, während er in seinen Taschen herumwühlte und eine Visitenkarte zutage förderte, die so abgewetzt aussah, als hätte er sie bereits Dutzende Male überreicht. »Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, rufen Sie mich an.« Er wandte sich zu seinem Wagen. »In der Zwischenzeit werden wir Ausschau halten nach jemandem, der aus Licht besteht und durch die Gegend spaziert.«

Der Krankenwagen fuhr davon, und einen Augenblick später folgte ihm das Auto des Detectives. Einer der Polizisten stand immer noch oben am Kelleraufgang und sprach in ein Walkie-Talkie. Schließlich begriff Carter, dass er jetzt frei war zu gehen, obgleich niemand ihm eine besondere Erlaubnis erteilt hatte.

Es wirkte alles so … unspektakulär. Er hatte eine Leiche entdeckt, einen toten, verbrannten Körper, und jetzt war schon alles vorbei. Er ging davon. Niemand hatte mehr weitere Fragen an ihn, es gab nichts mehr, das er tun könnte. Möglicherweise war das der Grund, warum ihn das ganze Grauen, das er gerade erlebt hatte, in einer verspäteten Reaktion erst jetzt traf. Da er nichts zu tun hatte und mit niemandem reden musste, konnte er sich plötzlich ganz auf die Realität konzentrieren, auf die grausige, haarsträubende Entdeckung, die er gemacht hatte. Es war nicht die erste Leiche, die er je gesehen hatte. Bei seinen Expeditionen hatte er es gelegentlich mit Todesfällen zu tun, mit den sterblichen Überresten von Menschen, die auf natürlichem Weg oder durch ein Unglück gestorben waren. Aber das hier war etwas ganz anderes. Dies war einer jener Anblicke, die einen bis in die Träume hinein verfolgten. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Als hätte er im Moment nicht schon genug Probleme, Schlaf zu finden.

Zitternd stellte er den Kragen seiner Lederjacke auf. Langsam wurde es Zeit, den Parka hervorzuholen. Obwohl es erst Spätnachmittag war, war das Licht bereits ziemlich spärlich. Die Tage wurden kürzer. An der Ecke vierte Straße West wartete er gerade an der Ampel, als er plötzlich das Gefühl hatte, jemand stünde rechts hinter ihm. Und beobachtete ihn. Er drehte sich um, aber der nächste Fußgänger war eine ältere Frau mit einer Gehhilfe, die den Blick auf das Pflaster gerichtet hatte.

Er überquerte die Straße und schritt für den Rest des Heimwegs forsch aus. Nicht nur, um warm zu werden, sondern auch, um dieses unheimliche Gefühl abzuschütteln, jemand folge ihm. Ein-oder zweimal drehte er sich abrupt um, doch niemals sah er einen Verdächtigen. Als er das Foyer seines Hauses betrat, blieb er stehen, um die Post aus dem kleinen Metallbriefkasten zu holen. Diese Briefkästen, dachte er, waren offensichtlich lange vor der Zeit der Versandkataloge entworfen worden. Anstatt auf den unzuverlässigen Fahrstuhl zu warten, entschied er sich für die Treppe und nahm zwei Stufen auf einmal.

Beth war nicht zu Hause, und in der Wohnung war es dunkel. Er ging von Zimmer zu Zimmer, schaltete die Lampen an und legte eine CD der Hives in die Stereoanlage. Er wollte peppige schnelle Musik, die seine Aufmerksamkeit fesselte. Er riss den Kühlschrank auf, nahm ein Bier heraus und ging ins Wohnzimmer. Er lümmelte sich aufs Sofa und streckte die Beine aus. Über seinem Kopf sah er die Vogelbilder von Audubon. Von denen Joe eines abgenommen hatte, um es durch ein Kruzifix zu ersetzen. Worum, fragte er sich, ging es hier eigentlich wirklich? Er hatte nie die Gelegenheit gehabt, ihn zu fragen, und jetzt wäre es ganz eindeutig keine gute Idee.

Vielleicht sollte er nach dem Abendessen noch einmal im Krankenhaus vorbeischauen, nur um gute Nacht zu sagen.

Er hob eine Ausgabe des New York Magazine vom Boden neben dem Sofa auf und begann darin zu blättern. Vielleicht entdeckte er eine Empfehlung für ein Downtown-Restaurant, das Beth und er heute Abend ausprobieren konnten, irgendein überfülltes und lautes Lokal. Doch kaum hatte er das Heft aufgeschlagen, als er jemanden draußen vor der Wohnungstür hörte. Er hielt die Zeitschrift ganz still und lauschte. Für Beth war es noch ein wenig zu früh. Raleigh bestand darauf, dass seine Angestellten die volle Zeit im Laden absaßen. Doch als Carter vom Sofa aufstand, schwang die Tür auf, und Beth trat ein, ihren Lederkoffer in der einen und eine ausgebeulte Plastiktüte in der anderen Hand, aus der es verdächtig nach chinesischem Essen roch.

»Lass mich das nehmen«, sagte er und eilte herbei, um ihr die Tüte abzunehmen, die jeden Moment zu reißen drohte.

»Danke«, sagte Beth und schloss die Tür hinter sich mit einem Fußtritt. Dann drehte sie den Schlüssel im Schloss um und legte den Riegel vor. Anschließend spähte sie durch den Spion.

»Heute Abend bist du aber besonders vorsichtig«, sagte Carter und stellte die Tüte auf den Küchentresen.

»Na ja, ich habe unten einen ziemlichen Schrecken bekommen.«

Carter ließ die Tüte Tüte sein und ging zu Beth.

»Was ist passiert?«

»Eigentlich nichts. Ich habe einfach nicht aufgepasst, als ich ins Haus gekommen bin.«

Carter wartete.

»Ich trug den ganzen Krempel, und ich war schon im Foyer, ehe ich begriff, dass jemand da war. Normalerweise bin ich aufmerksamer.«

»Wer war es?« Carter dachte an sein Gefühl, auf dem Weg nach Hause verfolgt zu werden.

»Ich weiß nicht, ich konnte ihn nicht besonders gut erkennen.« Sie zog ihren Mantel aus und hängte ihn an den Holzständer neben der Tür. »Ich glaube, er wollte nicht, dass ich ihn ansehe. Er war groß, blond, glaube ich, und trug eine Sonnenbrille. Beinahe sofort, nachdem ich das Haus betreten hatte, drehte er sich um und verließ das Foyer. Ich wollte gerade die Post holen.«

»Ich habe sie bereits geholt«, sagte Carter wie betäubt.

»Gut, weil ich nicht mehr nachgesehen habe. Er stand direkt davor. Ich könnte sogar schwören, dass er mit dem Finger über unsere Namen auf dem Briefkasten fuhr.«

Carter fühlte einen eisigen Schauder und schloss Beth instinktiv fest in die Arme.

»Es geht mir gut«, sagte sie mit einem nervösen Lachen, »wirklich. Sobald ich meinen Schlüssel in die Tür zur Lobby gesteckt habe, ging er nach draußen und die Treppe hinunter.«

»Hast du gesehen, wohin er gegangen ist?«, fragte Carter.

»Es sah aus, als sei er über die Straße in den Park gegangen, aber ich habe nicht gewartet, um es herauszufinden.«

Carter ließ Beth los und rannte zum vorderen Fenster, das zum Park hinaus zeigte. Die Straßenlaternen waren noch nicht eingeschaltet, und in der Abenddämmerung war es schwer, viel zu erkennen. Ein paar Inlineskater zogen noch ihre Runden auf den Fußwegen, ein Mädchen im Teenageralter führte einen Hund spazieren, und ganz hinten verließ gerade eine hochgewachsene Gestalt im roten Mantel den Park durch den anderen Eingang.

Carter schnappte sich seine Lederjacke vom Garderobenständer und entriegelte hastig die Tür.

»Wo willst du hin?«, fragte Beth alarmiert. »Du wirst doch wohl nicht etwa nach dem Kerl suchen?«

»Ich habe ihn gesehen«, sagte Carter, sperrte die Tür auf und rannte hinaus.

»Aber ich habe dir doch gesagt«, erklärte Beth, obwohl sie ihn bereits die Treppe hinunterstürzen hörte, »dass er eigentlich gar nichts gemacht hat!«

Sie hörte Carters Füße auf dem Treppenabsatz landen, dann die nächsten Stufen hinunterrasen. Sie eilte zur Tür und rief: »Carter! Vergiss die ganze Sache doch einfach!«

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