Keine Antwort.
»Ist da jemand?«
Carter stieg eine Stufe hinunter, und der Brandgeruch, der Geruch nach verbranntem Fleisch, um genau zu sein, wurde noch stärker.
Schließlich konnte er etwas erkennen, einen geschwärzten Haufen, der auf dem Boden lag.
Er stieg noch eine Stufe hinab und sah, dass der Haufen Schuhe trug. Verbrannte, aber deutlich erkennbare Schuhe mit hohen Absätzen.
Carter blieb stehen. Das war eine Leiche. Ein Toter. Aber das Rascheln ertönte erneut, und er sah eine Bewegung.
O mein Gott, dachte er. Vielleicht auch nicht. Vielleicht lebt sie noch! Er sprang den Rest der Stufen hinab, und kaum berührte sein Fuß den Beton am Grund der Treppe, als es plötzlich hektisch zu werden begann. Es quietschte und huschte, rote Augen und kleine weiße Zähne blitzten auf. Ratten, manche schwarz und groß wie Katzen, stoben in alle Richtungen davon, rannten über seine Schuhe und jagten die Stufen hinauf. Carter blieb wie angewurzelt stehen, bis die Meute verschwunden war. So etwas war ihm schon einmal passiert, als er in eine uralte Abfallgrube in Yucatán hinabgestiegen war, und er war klug genug, um den Atem anzuhalten und es einfach geschehen zu lassen. Die Ratten wollten genauso wenig etwas von ihm wie er von ihnen.
Sein erster Eindruck hatte ihn nicht getäuscht. Die Leiche sah aus, als sei sie in sich zu einem Haufen aus verbrannten Gliedmaßen und verschmorten Knochen zusammengefallen. Das Gesicht, beziehungsweise das Wenige, was davon noch übrig war, starrte in einer stummen, schmerzverzerrten Grimasse nach oben. Als er sich tiefer beugte, war der Geruch von verbranntem Fleisch kaum noch zu ertragen. Er musste sich abwenden, einmal kräftig Luft holen und sich mit geschlossenem Mund wieder umdrehen. Was er sah, kam ihm, wie das Bild auf dem Führerschein, seltsam bekannt vor. Kannte er diese Person?
Ich sah einen Mann, aber eigentlich war es gar kein Mann. Er war ganz und gar aus Licht, und er leuchtete.
Jetzt fiel es ihm wieder ein.
Ich gab ihm meinen besten roten Mantel.
Der Transvestit, der in dieser Gegend arbeitete.
Dieser Mann war ein Engel.
Den hatte er hier vor sich – oder besser, was von ihm übrig war. Aber was um alles auf der Welt war ihm zugestoßen?
Carter wandte den Kopf ab und schnappte erneut nach Luft.
War es nicht merkwürdig? Erst Russo, und nun dieser Kerl, beide übel verbrannt. Fast am selben Ort, und innerhalb weniger Tage. Wie standen die Chancen, dass es sich um einen Zufall handelte? Carter schätzte sie als nicht besonders groß ein.
Er sah sich im dunklen Kelleraufgang um, aber alles, was er fand, waren Asche und Fetzen von verbranntem Zeitungspapier. Mehr nicht. Er konnte nichts mehr für den toten Donald Dobkins tun, außer die Polizei zu rufen.
In der Telefonzelle an der Ecke wählte er 911, und eine Minute später kreuzte ein Streifenwagen auf. Ein Mord, vermutete Carter, stand bei der Polizei immer noch hoch im Kurs.
Er reichte einem der Beamten den Führerschein, den er gefunden hatte, und war gerade dabei zu erklären, wie er die Leiche gefunden hatte, als ein weiterer Wagen, dieses Mal ein Zivilfahrzeug, auftauchte. Ein Mann mittleren Alters stieg aus. Er trug einen alten grauen Regenmantel sowie eine große schwarze Brille mit mindestens einem Zentimeter dicken Gläsern. »Haben Sie angerufen?«, fragte er Carter, und dieser nickte. »Dann bin ich derjenige, mit dem Sie sich unterhalten sollten.« Er öffnete seinen Mantel, um die goldene Plakette vorzuzeigen, die an seinem herabhängenden Gürtel befestigt war. »Ich bin Detective Finley.«
Er warf einen kurzen Blick in den Kelleraufgang, dann sagte er müde: »Warten Sie hier.«
Carter tat wie befohlen, obwohl er bereits bedauerte, jemals in diese Sache hineingeraten zu sein. Warum hatte er nicht einfach anonym angerufen, den Führerschein dort gelassen, wo er ihn gefunden hatte, und sich davongemacht? Das wäre nicht richtig gewesen, aber zumindest würde er jetzt nicht hier herumstehen und darauf warten, die kostbaren spärlichen Informationen weiterzugeben, die er hatte.
Detective Finley kam die Stufen hoch und steckte sich die Finger in die Ohren, als der Krankenwagen mit heulenden Sirenen am Tatort ankam. Als der Wagen anhielt und die Sirenen verstummten, nahm Detective Finley die Finger wieder raus. »Das machen sie immer«, sagte er zu Carter. »Ich werde noch taub davon.«
Carter lächelte mitfühlend. »Berufsrisiko, schätze ich.«
»Nicht das schlimmste.«
Nein, vermutlich nicht. Der Detective zog einen Notizblock aus der Tasche seines Regenmantels und nahm pflichtbewusst Carters Namen, seine Telefonnummer und ein paar Stichworte auf, wie er die Leiche gefunden hatte und warum er überhaupt hier gewesen war. Als Carter erwähnte, dass er in dem Labor auf der anderen Straßenseite arbeitete, schien der Detective die Ohren zu spitzen. »Ich wurde an dem Abend dazugerufen«, sagte er. »Wir haben eine Leiche da rausgeholt, die genauso übel verbrannt war wie diese hier, und einen Kerl, der noch geatmet hat.«
»Das ist ein Freund von mir, derjenige, der noch lebt. Er liegt jetzt im St. Vincent’s Hospital.«
»Ich weiß. Ich habe ihm die Hand gehalten, bis sie ihn in die Notaufnahme gebracht hatten.« Traurig schüttelte er den Kopf. »Armer Kerl – ich bin froh, dass er durchgehalten hat.« Er deutete auf den Kelleraufgang, wo die Sanitäter die Leiche auf eine Bahre legten. »Und jetzt sieht es so aus, als hätten wir ein weiteres Brandopfer, bloß dass dieses bereits seit ein oder zwei Tagen tot ist.«
»Ich weiß, wer es ist«, erklärte Carter freiwillig. »Ich habe sogar …«
»Wir kennen ihn ebenfalls. Er ist einer der Transvestiten, die in dieser Ecke arbeiten. Er wurde hin und wieder zusammengeschlagen, das werden sie alle. Aber so etwas Übles ist noch nie vorgekommen.«
»Sie meinen also, einer seiner … Kunden hätte ihm das angetan?«
Detective Finley trat zur Seite, um die Bahre vorbeizulassen. Selbst jetzt, wo die Leiche in eine Plastikdecke gehüllt war, war der Gestank noch heftig. Die Sanitäter trugen Zellstoffmasken.
»Das kann ich im Moment noch nicht sagen. Aber was mich stutzig macht, ist die Tatsache, dass es genau gegenüber von dem Ort passiert ist, wo ich die letzten Brandopfer gesehen habe.«
Obwohl es schwierig war, Finleys Augen durch die dicken Brillengläser zu erkennen, hatte Carter das Gefühl, eindringlich gemustert zu werden.
»Was haben Sie eigentlich in diesem Labor gemacht?«, fragte Finley.
»Wir haben an einem Fossil gearbeitet. Ein seltener Fund, aus Italien.«
»Haben Sie brennbare Stoffe verwendet, wie zum Beispiel chemische Mittel? Schneidbrenner?«
Er griff nach Strohhalmen, so viel war Carter klar, aber zum ersten Mal dämmerte es Carter, dass er vielleicht aufpassen sollte, was er sagte. »Es wurden ein paar zusätzliche Scheinwerfer provisorisch angebracht«, räumte er ein. »Der Brandinspektor glaubt, dass das Feuer dadurch verursacht wurde.«
Detective Finley schürzte die Lippen. »Ziemlich großer Rums für eine falsche Sicherung.«
Natürlich könnte Carter erklären, was wirklich geschehen war, wenn er wollte. Er könnte ihm sagen, was Russo ihm mitgeteilt hatte, dass Mitchell den Laser auf die Felsplatte gerichtet hatte, einen Felsen, in dessen Inneren sich Kammern mit explosiven Gasen befanden. Doch aus irgendeinem Grund tat er es nicht. Er erzählte auch nicht, was Russo in seinem verwirrten Zustand über das lebendig gewordene Fossil gesagt hatte.
»Haben Sie jemals mit diesem Typ, Donald Dobkins, der Hure, geredet?«
»Nein«, sagte Carter, ehe er sich verbesserte und sagte: »Ach, doch, einmal.« Verdammt, dachte er. Finley würde seine Verwirrung bemerken. »Ich war auf dem Land, als sich der Unfall ereignete, aber direkt danach bin ich zum Labor, am Tag nach dem Unfall. Da habe ich ihn auf der Straße gesehen. Er faselte etwas davon, dass er jemanden aus dem brennenden Gebäude hatte kommen sehen.« Warum hatte er immer stärker das Gefühl, ein Alibi abzugeben?