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Ezra schnaubte unbeeindruckt.

»Aber jeder gute Wissenschaftler«, fuhr Carter fort, »gleichgültig, ob Astronom oder Paläontologe, will tatsächlich die Wahrheit herausfinden. Er will wissen, was der Beweis zeigt oder die empirisch gesammelten Daten enthüllen. Er hat kein Interesse daran, für die eine oder andere Theorie zu plädieren, ehe er sich angesehen hat, was er vor sich hat, und ein Muster oder eine Idee erkennt, die allem einen Sinn gibt.«

»Aber das setzt voraus, dass er weiß, wohin er schauen muss, dass er weiß, welche Daten er sammeln muss und wie diese miteinander zu verknüpfen sind.«

»Ja, sicher«, sagte Carter und fragte sich, wie man es sonst machen sollte. »Ein Wissenschaftler, der nicht weiß, welches Material für seine Arbeit relevant ist, wird niemals weit kommen.«

»Und ich nehme an, dass Sie zum Beispiel glauben, Sie wüssten es? Sie glauben, dass Sie alles mit einbezogen haben, was für die Arbeit mit dem Fossil relevant sein könnte. Ist es nicht so?«

Womit sie wieder beim Fossil wären. »Ja, das glaube ich.«

»Sind Sie sich darüber im Klaren, dass eine Minute nach der Explosion in Ihrem Labor die Glocken in jeder Kirche in der Stadt zu läuten begonnen haben?«

Carter erinnerte sich, davon im Radio gehört zu haben, als sie von Abbies und Bens Landhaus zurückgefahren waren. »Ja. Es war eine Art Halloweenstreich.«

»Ein Streich, für den es bis jetzt noch keine Erklärung oder Lösung gibt.«

»Und Sie glauben, dass das Glockengeläut etwas mit meiner Arbeit zu tun hat?«, sagte Carter ungläubig. »Wollen Sie etwa sagen, dass die Gewalt der Explosion eine Art … ja was, ausgelöst hat? Eine einheitliche Schwingung in den Kirchenglocken im ganzen Umkreis?«

Unvermittelt beugte Ezra sich vor, wobei er den Teller mit den Ellenbogen zur Seite schob. »Sie haben keine Ahnung, wovon ich rede! Die Fakten springen Ihnen ins Auge, aber Sie wollen sie einfach nicht sehen!«

Carter erinnerte sich an seinen Gedanken darüber, in einen Abgrund zu blicken. »Welche Fakten meinen Sie?«

»Glauben Sie, diese beiden Ereignisse sind nichts als Zufall?«

»Genau das denke ich. Was sollte es sonst sein?«

In Ezras Blick loderte Überzeugung oder, wie Carter dachte, der Wahnsinn. Er merkte, dass sein Gastgeber versuchte, sich zu einer Entscheidung durchzuringen. Er schätzte Carter ab und fragte sich, ob er das Thema anschneiden sollte, dem er schwerlich länger ausweichen konnte. Schließlich sagte er, mit einer Stimme, die andeutete, dass er einige tiefgreifende Vorbehalte überwunden hatte. »Kommen Sie mit.«

Ezra warf seine Serviette auf den Tisch, erhob sich und verließ den Raum. Carter folgte ihm. Er hatte keine Ahnung, wo es hinging oder was ihn dort erwartete, aber nach der Unterhaltung, die sie gerade geführt hatten, sollte er sich besser auf etwas gefasst machen. Was immer Ezra ihm zeigen wollte, es würde … ziemlich absonderlich sein.

Am Ende eines langen Korridors blieb Ezra stehen und schloss eine Tür auf. Er hielt sein eigenes Zimmer, seine eigenen Räume, verschlossen? Carter hatte immer mehr das Gefühl, es mit einer paranoiden Persönlichkeit zu tun zu haben. Ezra trat ein, und sobald Carter das Zimmer ebenfalls betreten hatte, schloss und versperrte er die Tür hinter ihnen.

»Ich muss gewisse Vorsichtsmaßnahmen ergreifen«, sagte Ezra.

Carter nickte, als würde er verstehen. Das Schlafzimmer, in dem er jetzt stand, war sehr groß und gut möbliert, aber bis jetzt hatte er nichts entdeckt, das ihm sonderlich unheimlich oder bemerkenswert vorgekommen wäre. Wenn Ezra etwas hatte, das er ihm zeigen wollte, dann musste es sich hinter der Tür zu seiner Linken verbergen.

»Ehe ich Sie einweihe«, sagte Ezra, »müssen Sie mir versprechen, dass Sie niemandem ein Wort davon verraten. Kann ich mich darauf verlassen?«

Carter willigte ein.

»Und Sie versprechen auch, dass Sie nicht voreingenommen sind?«

»Ehrenwort!«

Ezra blieb stehen, als sei er immer noch nicht sicher, ob er den nächsten Schritt wirklich machen sollte. Doch schließlich öffnete er die Tür zum angrenzenden Zimmer und blickte sich um, ehe er eintrat. Ein weiteres Anzeichen von Paranoia?, dachte Carter.

Die Luft war stickig, der Raum dämmrig. Es gab Terrassentüren, wie im Esszimmer, doch die Vorhänge waren zugezogen, und Carter hatte den ausgeprägten Eindruck, dass sie nur selten, wenn überhaupt jemals, zurückgezogen wurden. Ezra ging zur anderen Seite des Raumes und schaltete die Lampe über einem Zeichentisch ein. Auf dem Tisch und an den Wänden davor und daneben bedeckten Klarsichthüllen gelbe Bruchstücke und Streifen von etwas, das aussah wie antike Schriftrollen oder Papyri.

»Was ist das?«, fragte Carter. »Die Schriftrollen vom Toten Meer?«

Ezra antwortete nicht, und Carter dachte plötzlich O mein Gott, sie sind es tatsächlich! Er sah Ezra an, der seinem Blick standhielt. In seinen Augen sah er Trotz, aber auch Stolz aufblitzen.

»Wie um alles auf der Welt sind Sie an die rangekommen?«

»Sagen wir, ich habe sie gefunden. Sie waren dazu bestimmt, in meinen Besitz zu gelangen.«

Carter konnte nicht widerstehen und trat näher. Er ging zur Wand und musterte eine der Hüllen, die dort hingen. Selbst für jemanden wie ihn, der den Umgang mit altertümlichen Dingen gewohnt war, war es faszinierend. Noch nie zuvor hatte er ein so altes Dokument gesehen, und soweit er wusste, gab es keine, die älter waren. Dieses hier war eng mit unentzifferbaren Schriftzeichen bedeckt, aufgeschrieben mit einer leicht violetten Tinte, die fast schwarz wirkte. Er blickte hinüber zum Zeichentisch, wo Ezra offensichtlich dabei war, ein weiteres Stück der uralten Schriftrolle zusammenzusetzen.

»Was steht darin?«

»Wie Sie sehen können, setze ich sie noch zusammen. Aber sie stellt eine Mischung dar, aus Geschichten, Enthüllungen … und Prophezeiungen.«

Carter beugte sich näher über das Blatt auf dem Zeichentisch. »Ist das Papyrus?«

»Nein«, sagte Ezra. »Es ist etwas anderes. Aber vorausgesetzt, es stammt tatsächlich ursprünglich aus dem Nahen Osten, wäre es unwahrscheinlich, dass Reis beigemischt wurde. Vermutlich handelt es sich um irgendeine Tierhaut – Ziege, Schaf, Kamel, Ochse.«

»Klingt, als müssten Sie es noch genauer eingrenzen.«

»Das stimmt … und ich hatte gehofft, dass Sie mir dabei helfen könnten.«

Carter warf einen kurzen Blick auf Ezra, um zu sehen, ob er einen Witz machte, aber es sah nicht so aus. Er meinte es ernst. »Woher soll ich das wissen?«, sagte er. »Das ist nicht gerade mein Fachgebiet.«

»Aber Sie haben ein Labor an der NYU. Sie haben Zugang zu allen üblichen Datierungstechniken und könnten zum Beispiel eine Radiocarbondatierung durchführen. Und ich bin sicher, dass Sie auch eine molekulare Gewebsanalyse machen lassen könnten.«

Ezra stellte sich neben Carter und deutete mit dem Finger auf eine Stelle der Schriftrolle, wo das Licht am hellsten war. »Sehen Sie das hier? Es hat eine Struktur, vielleicht sogar die Porenstruktur eines Tiers. Was für ein Tier es sein könnte, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, woraus die Tinte besteht.« Er blickte zu Carter hinüber. »Aber wenn Sie in Ihrem Labor die entsprechenden Tests machen würden, könnten Sie es mir sagen.«

»Und das würde Ihnen weiterhelfen?«

»Bei meiner Arbeit? Enorm. Wenn ich die Zusammensetzung und das Alter der Schriftrollen kennen würde, wäre ich in der Lage, eine Menge mehr darüber herauszufinden.«

Carter richtete sich auf. »Wenn es so wichtig ist, wie kommt es dann, dass Sie keine Möglichkeit gefunden haben, die Laboruntersuchungen selbst zu machen?«

Ezra wandte den Blick ab, und für Carter sah es aus, als probte er, was genau er sagen wollte. »Während mein Anspruch auf dieses Material vollkommen legitim ist, gibt es immer noch bestimmte Behörden, hier und anderswo, die das bestreiten würden.«

Puh, dachte Carter, der Typ steckte ja echt ziemlich in der Klemme.

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