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»Du kannst es aufmachen«, sagte sie. Die Ferien in Palm Beach hatten ihr einen leichten braunen Teint beschert und das Haar aufgehellt. »Es ist nichts Großartiges.«

Hätte er ebenfalls ein Geschenk für sie besorgen müssen? Immerhin hatte er mit dem Streit angefangen und sie in die Flucht geschlagen. Aber es war ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen, ein Versöhnungsgeschenk bereitzuhalten. Er warf Gertrude einen raschen Blick zu, deren Stirnrunzeln ihm riet, sich dankbar zu zeigen und das Geschenk auszupacken.

»Danke«, sagte er, während er vorsichtig die weiße Schleife entfernte und die kleine türkisblaue Schachtel öffnete. Sie war mit einer ganzen Wolke aus Seidenpapier gefüllt, und darin eingebettet sah er eine glitzernde silberne Uhr mit weißem Zifferblatt und schwarzen Ziffern. Ein kleiner Umschlag war an dem oberen Ring befestigt. Ezra nahm die Uhr heraus und stellte die leere Schachtel auf den Tisch.

»Das ist ein Wecker von Tiffany«, sagte Kimberly. »Lies die Karte.«

Ezra zog die kleine braungelbe Karte aus dem dazupassenden Umschlag und las: »Wach endlich auf und kapier, wie der Hase läuft! Alles Liebe, Kimberly.«

Er war sich nicht sicher, was das zu bedeuten hatte; er meinte, diesen Ausdruck schon einmal irgendwo gehört zu haben, aber er war sich absolut nicht sicher.

»In unserem Haus in Palm Beach hatten Sam und ich eine Menge Zeit, um miteinander zu reden«, erklärte Kimberly. Vielleicht hatte sie seine Verwirrung bemerkt. »Wir sind beide zu dem Schluss gekommen, dass es zu deinem eigenen Besten höchste Zeit für dich wird, aus deinen alten Zimmern auszuziehen, dir eine eigene Wohnung zu suchen und anzufangen, auf eigenen Füßen zu stehen.«

Ezra war völlig schockiert.

»Es ist nicht eilig. Lass dir eine Woche Zeit, zwei, wenn es sein muss. Ich habe gehört, dass der Wohnungsmarkt zurzeit ziemlich angespannt ist. Aber wir glauben beide, dass du glücklicher sein wirst, wenn du von jetzt an allein lebst.«

Ezra, der nicht wusste, wie er reagieren sollte, blickte zu Gertrude hinüber, deren Gesichtsausdruck Mitgefühl verriet, aber keine Überraschung. Wahrscheinlich hatte sie so etwas erwartet, dachte Ezra. Sein ganzes Leben lang schienen die Leute mit den Dingen gerechnet zu haben, die Ezra zustießen, nur Ezra selbst wurde von den Ereignissen immer völlig überrascht. Was stimmte nicht mit seinem zwischenmenschlichen Radar?

»Aber ich will nicht gehen«, stammelte er. »Ich bin mitten bei der Arbeit. Ich kann sie jetzt nicht unterbrechen.«

»Natürlich kannst du das«, sagte Kimberly unbekümmert und durchquerte die Halle in Richtung Schlafzimmer. »In deiner eigenen Wohnung wirst du wahrscheinlich sogar noch besser arbeiten können. Besonders nach Montag nächster Woche.«

»Was ist denn Montag nächster Woche?«

»Da kommt Laurent vorbei, um sich deine Zimmer anzuschauen. Er ist Innenarchitekt.«

Kimberly hatte die Halle jetzt zur Hälfte durchquert und ihm den Rücken zugewandt.

»Wir werden diesen Teil der Wohnung komplett neu gestalten«, sagte sie über die Schulter, ehe sie in ihrem Schlafzimmer verschwand.

Ezra hörte, wie sie den Schlüssel im Schloss umdrehte.

Er stand immer noch so da, wie der Blitz ihn getroffen hatte, die silberne Uhr in den Händen.

»Das hatte ich befürchtet«, sagte Gertrude, trat auf ihn zu und nahm die Uhr. Sie blickte darauf. »Du solltest versuchen, sie immer am Ring hier oben festzuhalten. Dafür ist er da. Sonst hinterlässt du überall auf dem Silber deine Fingerabdrücke.«

Ezra beendete eine weitere Runde durch den Park. Es war ein grauer Tag und ziemlich kalt, so dass die meisten Bänke mit Blick auf den Fluss frei waren. Auf einer hatte jemand eine ordentlich zusammengefaltete Ausgabe der New York Times liegen gelassen.

Er breitete den Mantel unter sich aus, setzte sich und nahm die Zeitung. Die Titelseite war voll mit den üblichen Schreckensmeldungen. Ein Bombenanschlag in Belfast, Unruhen im Westjordanland, ein politischer Mord in Osteuropa. Doch unten rechts in der Ecke erweckte eine eigenartige Story Ezras Aufmerksamkeit. KIRCHENGLOCKEN LÄUTEN ZU HALLOWEEN? Er las rasch und stellte fest, dass in allen Bezirken von New York kurz nach zehn am Samstagabend die Glocken geläutet hatten. Bevor er zur Fortsetzung auf der Seite zwei des Lokalteils weiterblätterte, ließ er die Zeitung sinken und dachte einen Moment nach. Am Halloweenabend hatte er wie üblich in seinen Räumen gearbeitet, aber nach zehn hatte er eine Pause gemacht. Und ja, jetzt erinnerte er sich, dass er die Glocken über dem Fluss gehört hatte, wie sie unablässig läuteten. Es war ihm merkwürdig vorgekommen, aber er hatte nicht weiter darüber nachgedacht. Er war zurzeit schon nervös genug, auch ohne sich über Unregelmäßigkeiten und Vorkommnisse da draußen Gedanken zu machen.

Dann blätterte er zum Lokalteil der Zeitung weiter und las den Rest der Story. Es schien immer noch ein ungelöstes Rätsel zu sein, obwohl die Times Meinungen und Kommentare von solch erhabenen Quellen wie dem Diözesanrat, einer Hohepriesterin des Wicca-Glaubens und, basierend auf der Theorie, dass es sich um einen erstaunlich aufwendigen Halloweenstreich gehandelt hatte, von Penn Jillette wiedergab. Ezra glaubte keine Sekunde lang, dass es sich um einen Streich handelte. Er hatte in letzter Zeit zu viel durchgemacht und wusste nur zu gut, dass es Dinge gab, die im Traum nicht ins Weltbild der meisten Menschen passten.

Eine Mutter mit ihrer Tochter an der Hand ging an der Bank vorbei, auf der er saß.

»L’Assemble Generale est ou les delegats viennent a faire le paix l’un avec l’autre«, sagte die Mutter. Das Mädchen lächelte Ezra an, aber er vergaß, das Lächeln zu erwidern, bis sie vorbeigegangen war. Er dachte immer noch verbittert über das nach, was die Mutter gesagt hatte – dass die Vollversammlung der Ort sei, an dem die Nationen zusammenkamen, um Frieden miteinander zu schließen. Was für ein Unsinn. Als er in Jerusalem gelebt hatte, hatte er es stets als äußerst passend empfunden, dass sich das örtliche UN-Büro an dem Ort befand, der seit der Antike als Berg des Bösen Rates bekannt war.

Er blätterte zur ersten Seite des Lokalteils und sah das Bild eines brennenden Backsteingebäudes.

EXPLOSION AN DER NYU.

EIN WISSENSCHAFTLER TOT, EIN WEITERER VERLETZT.

Müßig überflog er den Artikel. Offensichtlich hatte am Samstagabend eine Explosion mit anschließendem Brand in einem Labor des Bio-Gebäudes großen Schaden angerichtet. Während immer noch unklar war, was die Katastrophe ausgelöst hatte, wurde ein Brandschutzexperte mit den Worten zitiert: »Wir untersuchen gerade eine Reihe extrem starker Scheinwerfer, die erst vor kurzem stümperhaft installiert wurden und durch unpassende Sicherungen gesichert waren.« Ein Juniorprofessor war bei der Explosion getötet worden, und ein weiterer Professor, der gerade zu Besuch weilte, wurde schwerverletzt. Ezra wollte gerade weiterblättern und zu dem Rätsel mit den Kirchenglocken zurückkehren, als ihm etwas auffiel, das wahrscheinlich niemandem sonst auffallen würde.

Es war die Übereinstimmung des Zeitpunkts.

Die tödliche Explosion hatte sich etwa gegen viertel nach zehn ereignet, nur eine Minute, bevor die Kirchenglocken zu läuten begonnen hatten. Und während niemand sonst auch nur auf die Idee kam, ein brennendes Gebäude und Glockengeläut miteinander in Verbindung zu bringen, war es genau das, was Ezra momentan die ganze Zeit tat. Er fügte die Dinge zusammen, stellte Verbindungen her, entwarf aus scheinbar nicht zusammengehörenden Fragmenten und Bruchstücken eine logische Geschichte.

Nichts beruhte tatsächlich auf Zufall. Nicht einmal die Tatsache, dass diese Zeitung vollständig auf genau dieser Bank liegengelassen worden war. Damit er sie finden und darin lesen konnte.

Einige Fragen stellten sich ihm: Erstens, hatten diese beiden Ereignisse tatsächlich irgendetwas miteinander zu tun?

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