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Carter hatte mit so etwas gerechnet. »Wenn Sie auch noch ein paar extra Lampen besorgen könnten, mache ich vier draus. Aber zum Wochenende muss alles fertig sein.«

Hank wandte sich wieder dem Köder zu. »Okay.«

Carter kam sich vor wie ein Olympionike, der geschickt eine Hürde nach der anderen nahm. In gewisser Weise jedoch war der nächste Schritt der schwerste von allen. Joe würde in wenigen Tagen hier aufkreuzen, so dass keine Zeit mehr blieb, es länger hinauszuschieben. Er musste Beth auf den neuesten Stand bringen und sie über einige Details informieren, die er für besonders verzwickt hielt.

Es war erst zwanzig nach elf, und sein erstes Seminar begann um drei. Also verließ er das Bio-Gebäude und sprang in die U-Bahn Richtung Uptown. Neben ihm saß ein fülliges Mädchen mit einem Kapuzenpullover und studierte das Horoskop auf der Rückseite eines Hochglanzmagazins. Der Aufmerksamkeit nach zu schließen, mit der sie las, hätte man meinen können, ihr Leben hinge in der einen oder anderen Weise von den abgedruckten Vorhersagen ab. Carter traf andauernd auf solche Leute, selbst unter seinen Studenten, und es machte ihn wahnsinnig. Diese Faszination für die Pseudowissenschaft in all ihren Spielarten, von den Tierkreiszeichen bis zur Kabbalah, von Feng Shui bis Hellseherei, von der Kraft der Pyramiden bis zur Rückführung in vergangene Leben. Eine Studentin, die natürlich aus L.A. kam, hatte ihm tatsächlich einmal erklärt, sie sei sicher, dass sie in einem früheren Leben ein Liebespaar gewesen seien. Zum Glück hatte sie den Kurs wieder abgewählt, ehe sie versuchte, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen.

Doch es war ein ständiger Kampf, all diesen Blödsinn aus ihren Köpfen zu verbannen und durch die aufrichtige Schönheit wahrer Wissenschaft und verbürgter Entdeckungen zu ersetzen. Es gab so viel Erstaunliches auf der Welt, wahr und trotzdem nahezu unglaublich, dass Carter diese Faszination durch das offensichtlich Fadenscheinige und Unbegründete nie begriffen hatte. Die Geheimnisse der Biologie und der Evolution, die Unermesslichkeit der Zeit im geologischen Maßstab und der Aufstieg der Menschheit befriedigten sein Bedürfnis nach Wundern vollkommen. Machten sich die Menschen eigentlich klar, wie leicht die Entwicklung eine vollkommen andere Richtung hätte nehmen können? Bisweilen stieß er dabei an die Grenzen seiner Vorstellungskraft, eher als bei allem, was die Mystiker und Star-Medien, die Astrologen und New-Age-Propheten sich so einfallen ließen. Diese geistlose Flut musste irgendwie gestoppt werden, andernfalls befürchtete er ernsthaft, dass sie das Fundament der wissenschaftlichen Forschung fortspülen könnte, das in jahrhundertelanger, mühseliger Arbeit errichtet worden war. Dann bliebe nur noch ein riesiges trübes und undifferenziertes Terrain übrig.

Doch wie sollte er ihr das verständlich machen, dachte er mit einem Blick auf die junge Frau neben sich, die begierig ihr Horoskop aufsog.

In der neunundfünfzigsten Straße stieg er aus und schlenderte in Richtung Park Avenue. Für Ende Oktober war es fast unangemessen warm, ein Altweibersommer, und er öffnete im Gehen den Reißverschluss seiner Lederjacke. In diesem Teil der Stadt sahen die Menschen auf der Straße eindeutig anders aus. Hier trug man, anders als im Village, Businesskleidung, wollte beeindrucken und Geschäfte machen. Die Männer steckten in Anzügen, hatten schmale lederne Diplomatenkoffer dabei und sprachen in winzige Mobiltelefone. Die Frauen waren teuer gekleidet, diskreter, aber echter Schmuck glitzerte an ihren Handgelenken, Ohren und Dekolletés. Wann immer Carter hierherkam, in die Welt, die er für Beths Welt hielt, fühlte er sich leicht deplatziert. Ein wenig zu sehr aus dem falschen Teil der Stadt, zu akademisch, um wirklich dazuzugehören.

Die Raleigh Galerie, in der Beth arbeitete, machte es nur noch schlimmer. Sie nahm die ersten beiden Etagen eines Gebäudes im italienischen Stil in der siebenundfünfzigsten East ein, und eine ausladende rote Markise reichte fast bis zur Hälfte über den gedrängt vollen Gehweg. Es war einer jener Orte, die Reiche und Prominente aufsuchten, oft mit ihren eigenen Experten im Schlepptau, um sich den Constable anzusehen, der sich seit Jahrzehnten in irgendeinem Landhaus versteckt hatte, oder eine Skizze von Claude Poussin, die auf mysteriöse Weise aus einem Schweizer Tresorraum ans Licht gekommen war. Das Zusammenleben mit Beth hatte Carter eine nachträgliche, aber gründliche Ausbildung in europäischer Kunstgeschichte beschert. Durch sie hatte er den atemberaubenden Wert dieser Werke zu würdigen gelernt. Ein weiß-behandschuhter Diener hielt ihm die Tür auf und nickte ihm zu, als er ihn erkannte.

»Ihre Gattin ist mit einem Kunden oben«, sagte er.

»Danke.«

Als Carter durch den Hauptraum der Galerie schritt, stellte er fest, dass in den reich verzierten Rahmen an den Wänden mehrere neue Gemälde hingen. Am bemerkenswertesten war das Porträt eines holländischen Bürgers in einem prächtigen, mit Pelz besetzten Mantel.

»Dieses Gemälde eines Bürgers, müssen Sie wissen, wurde einst Rembrandt zugeschrieben.«

Noch ehe er sich umdrehte, wusste er, wer gesprochen hatte. Richard Raleigh, geboren als Ricky Radnitz, hatte zusammen mit seinem Namen auch den Long-Island-Akzent abgelegt. Inzwischen hörte er sich an, als sei er im Mayfair District in London aufgewachsen.

»Morgen«, sagte Carter. »Ich war gerade in der Gegend und dachte, ich überrasche Beth.«

»Wenn Sie mich fragen«, sagte Raleigh, hakte sich bei Carter unter und zog ihn zurück zum Bild, »sollte es immer noch auf Rembrandt zurückgeführt werden. Sehen Sie sich nur die Pinselführung an, achten Sie auf die Details der Kleidung. Welcher Schüler wäre je so brillant gewesen?«

Carter hatte natürlich überhaupt keine Ahnung, und es war ihm auch herzlich egal. Alles, was er wollte, war nach oben gehen, sich Beth schnappen und herausfinden, ob sie Zeit für einen Lunch im Central Park hatte – was, wie er fand, der perfekte Rahmen war, um ihr von Joes bevorstehender Ankunft zu erzählen.

»Ich finde, es sieht unglaublich gut aus«, sagte Carter, »aber ich bin besser darin, Knochen zu beurteilen als Gemälde.«

»Stimmt, Sie sind ja sogar auf noch ältere Dinge spezialisiert als ich«, sagte Raleigh mit einem dünnen Lächeln. Er war ein kleiner adretter Mann, und Beth hatte Carter eines Tages verraten, dass die grauen Strähnen an seinen Schläfen vom Friseur stammten. Raleigh glaubte, dass er dadurch distinguierter und vertrauenswürdiger wirkte.

»Der Portier erwähnte, dass Beth oben sei?«, sagte Carter und zog unauffällig seinen Arm zurück.

»Kennen Sie den Unterschied zwischen einer unangefochtenen Zuschreibung und der Bezeichnung ›aus der Schule von …‹?«

»So aus dem Stegreif nicht.«

»Millionen, mein Junge, Millionen. Bei einem Ölgemälde wie diesem? Da geht es schnell um eine Differenz von fünfzehn, zwanzig Millionen Dollar.«

»Interessant«, sagte Carter und versuchte immer noch, sich in Richtung Treppe zu schieben.

»Beth hat einen neuen Kunden«, warnte Raleigh. »Ich muss Sie bitten, sie nicht zu stören, wenn sie mit ihm spricht.«

Das war es also. Carter war es nicht entgangen, dass Raleigh versuchte, ihn aufzuhalten, und jetzt kannte er den Grund dafür. Beth war Raleighs beste Angestellte, und er konnte stolz auf sie sein. Raleigh war brillant, wenn es darum ging, den Markt einzuschätzen und seine wohlhabenden Kunden zu verhätscheln, doch Beth verfügte über die eigentliche Expertise und ein tiefes Verständnis der Werke, ihrer Schöpfer und ihrer Provenienz.

»Ich tue einfach so, als sei ich ein Kunde.«

»Das würde Ihnen niemand abnehmen«, sagte Raleigh über die Schulter, während er rasch zur Tür strebte, durch die gerade eine reiche junge Tussi hereinschwebte. »Mrs Metzger!«, flötete er, »wie schön, dass Sie es einrichten konnten, kurz hereinzuschauen.«

Carter umfasste das Messinggeländer und stieg die breite, mit rotem Teppich ausgelegte Treppe nach oben. Im Zwischengeschoss waren die Büros versteckt, und vom Treppenabsatz aus führte eine zweite Treppe in die obere Galerie. Er konnte Beth hören, ehe er sie sah, als sie gerade etwas zum Thema Zeichenkunst erklärte.

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