Литмир - Электронная Библиотека
A
A

»Geschäftlich?«

»Nein, er hat da eine Freundin.«

Als er weder lachte noch irgendeine andere Reaktion zeigte, sagte sie: »Das war ein Witz, Carter. Kein besonders guter, aber trotzdem ein Witz.«

»Tut mir leid. Ich fürchte, ich bin etwas abgelenkt.«

»Dazu hast du jedes Recht. Wie lange bist du schon hier?«

Carter schaute auf die Uhr über dem Fernseher. »Etwa vier Stunden.«

Abbie nickte.

Jeden Augenblick konnte es so weit sein. Das war es, was sie dachte. Das war es, was er seit vier Stunden dachte. Jeden Augenblick konnte er die Antwort erhalten. Aber wollte er es auch?

Abbie tat, als würde sie sich den landesweiten Wetterbericht ansehen. Carter konnte sie kaum ansehen, ohne an die grauenvolle Nacht auf dem Land erinnert zu werden. Doch eines war ihm zunehmend klarer geworden: Er war der Einzige, der sich überhaupt erinnerte. Er hatte festgestellt, dass Abbie nichts mehr von dem wusste, was Arius mit ihr angestellt hatte. Wenn jemals Bilder des Überfalls in ihrem Bewusstsein aufflackerten, wurden sie als nichts weiter als ein Albtraum abgetan, den sie einmal gehabt hatte.

Genauso war es bei Beth.

Gewiss, sie erinnerte sich daran, aus dem Badezimmerfenster geklettert, durch den Obsthain gerannt und aus Arius’ Umklammerung vom Heuboden gefallen zu sein, aber sie erinnerte sich an nichts, was ihr in jener entscheidenden Nacht in New York vor Monaten zugestoßen war. Als Carter behutsam versucht hatte, es ihr zu erzählen, hatte sie zuerst überrascht und schließlich mit wachsendem Entsetzen reagiert. Schließlich hatte sie ihm eine Hand auf den Mund gelegt und gesagt: »Hör auf! Ich werde ein Kind bekommen, unser Kind, und ich habe schon genug Sorgen. Rede mir nichts ein, das es noch schwerer machen würde.«

Also hatte er seine Sorgen Dr. Weston vorgetragen. Dieser hatte ihm die Laborergebnisse und Ultraschallbilder gezeigt und ihm geraten, sich zu entspannen. »Aber Sie haben doch selbst erzählt, dass Beth unmöglich von mir schwanger werden kann.«

»Ich bin nicht unfehlbar«, hatte Dr. Weston gesagt. »Es sind schon merkwürdigere Dinge geschehen.«

Ach, tatsächlich?

»Mr Cox?«, sagte die Schwester und steckte erneut den Kopf durch die Tür. Carter sagte nichts, bis Abbie schließlich an seiner statt antwortete. »Ja?«

»Der Doktor kommt in einer Minute, um mit Ihnen zu reden.«

Ehe er sie noch irgendetwas fragen konnte, hatte sie sich schon wieder zurückgezogen. Was hatte das zu bedeuten: Der Doktor kommt, um mit Ihnen zu reden? Er sah Abbie an, und selbst sie sah ein wenig besorgt aus.

»Glaubst du, dass irgendetwas nicht stimmt?«, fragte Carter sie.

Wenig überzeugend schüttelte Abbie den Kopf. »Nein. Wie kommst du darauf?«

»Der Klang ihrer Stimme. Irgendwie hörte sie sich unehrlich an.«

»Ich bin sicher, dass sie viel zu tun hat.«

»Nein, in ihrer Stimme schwang etwas mit«, beharrte Carter.

Abbie tat, als würde sie etwas tief unten in ihrer Tasche suchen, und Carter stand auf und ging zum Fenster. Sie befanden sich im zehnten Stock, und als er hinausblickte auf die Lichter der Stadt, stellte er fest, dass das alte Sanatorium auf der anderen Straßenseite verschwunden war. An seiner Stelle ragte das stählerne Gerüst des Neubaus der Villager-Genossenschaft in die Höhe. Er fragte sich, was Ezra, der sich immer noch in einer Privatklinik im Norden »erholte«, davon halten würde. Oder ob es ihn überhaupt interessierte.

Erneut hörte er, wie die Tür geöffnet wurde. Als er sich umdrehte, kam Dr. Weston, immer noch im OP-Kittel, gerade herein. Schweiß stand ihm auf der Stirn, und er wischte sich die Hände mit einem Papierhandtuch ab.

»Stimmt irgendetwas nicht?«, platzte Carter heraus.

Der Arzt hob die Hände. »Im Moment ist alles in Ordnung.«

»Aber da war etwas?«

Abbie stand auf, die offene Handtasche griffbereit. Sie kannte Dr. Weston gut, schließlich hatte sie Beth empfohlen, sich an ihn zu wenden.

»Ja«, gab Dr. Weston zu, »aber jetzt ist alles in Ordnung. Warum setzen wir uns nicht?«

Wie betäubt ging Carter zum Sofa und setzte sich neben Abbie. »Ich bin ihre beste Freundin«, sagte sie zum Arzt, während er sich einen Stuhl heranzog. »Sie können mir alles erzählen.«

»Ja, ich weiß.« Als er saß, schaute er Carter an und sagte: »Ich will Ihnen nichts vormachen, es war ein hartes Stück Arbeit.«

»Ich weiß, dass es zu früh gekommen ist, aber …«

»Ja, einmal das. Aber bei ihrer Frau sind noch weitere Komplikationen aufgetreten. Sie bekam einen plötzlichen Fieberschub …«

»Ist das ungewöhnlich?«

»Ja, besonders in dieser Höhe. Wir mussten uns beeilen und einen Kaiserschnitt machen, damit wir anschließend ihre Körpertemperatur wieder runterbringen konnten. Wir haben ihr ein fiebersenkendes Mittel gegeben und sie kurz in ein Eisbad gelegt.«

»Und jetzt?«

»Ihre Temperatur ist wieder unter Kontrolle Aber sie hat eine Menge Blut verloren.«

»Brauchen Sie eine Spende?«, sagte Abbie. »Ich könnte Ihnen auf der Stelle etwas geben.«

»Danke, aber Beth hat eine sehr seltene Blutgruppe, AB negativ. Glücklicherweise hat sie zwei Konserven Eigenblut gespendet. Wir haben beide gebraucht.«

»Aber jetzt geht es ihr gut?«, fragte Carter stockend.

»Ja, es geht ihr gut, und sie ruht sich aus.«

»Und das Baby?«

Jetzt lächelte Dr. Weston. »Dem Baby geht es ebenfalls gut. Er ist geradezu perfekt.«

»Kann ich sie jetzt sehen?«, fragte Carter.

»Ja, natürlich«, sagte Dr. Weston und erhob sich. »Aber seien Sie gewarnt – sie wird sich noch eine Weile ziemlich benommen fühlen.«

Carter stand auf, aber Abbie sagte: »Geh du allein. Ich besuche sie morgen.« Erneut wühlte sie in ihrer Tasche herum, bis sie schließlich ihr Handy herausfischte. »Ich rufe Ben an und erzähle ihm die gute Neuigkeit.«

»Okay«, sagte Carter und berührte ihre Hand. Als sie zu ihm emporschaute, lag in ihrem Blick etwas Trauriges und Unergründliches.

»Grüß sie ganz lieb von mir«, sagte sie.

»Mach ich.«

»Das erste Zimmer links«, sagte Dr. Weston, »aber versuchen Sie, nicht zu lange zu bleiben. Sie hat einiges durchgemacht.« Mit dem Ellenbogen drückte er auf den Türöffner in der Wand, und die Tür zur Station öffnete sich für Carter.

»Ach ja«, sagte Carter, kurz bevor er hineinging, »danke übrigens. Für alles.«

»Es war mir ein Vergnügen«, sagte Dr. Weston. »Noch nie habe ich mich so sehr gefreut, so gründlich danebengelegen zu haben.«

Allmählich fühlte Carter Erleichterung in sich aufsteigen. Im Stillen hatte er sich seit Monaten vor dieser Nacht gefürchtet, aber jetzt, da sie gekommen und fast vorüber war, begannen seine düsteren Vorahnungen endlich zu verblassen. Er hatte einen Sohn, einen normalen Sohn, einen perfekten Sohn, und Beth würde wieder gesund werden.

Er konnte Beths leicht lallende Stimme hören, wie sie etwas über Eiscreme sagte. Als er in der Tür zum Zimmer stehen blieb, lachte eine Krankenschwester.

»Möchtest du ein Eis?«, fragte er Beth.

»Nein«, antwortete die Schwester, »sie sagte, sie möchte in Eiscreme baden.«

»Das lässt sich einrichten«, sagte er und trat näher ans Bett.

Nachdem die Schwester gegangen war, streckte Beth eine Hand aus. Das Plastikarmband des Krankenhauses baumelte an ihrem Handgelenk. Im anderen Arm hielt sie ein kleines Bündel in einer blauen Decke. Sie sah erschöpft, aber glücklich aus.

»Darf ich dir Joseph Cox vorstellen?«, sagte sie.

Einhellig waren sie zu dem Schluss gekommen, ihn nach Russo zu benennen.

Carter trat ans Bett, ergriff ihre feuchte Hand und blickte auf seinen neugeborenen Sohn hinunter. Es gab nicht viel zu sehen, nur ein winziges rotes Gesicht, zusammengekniffene Augen und ein paar feine Löckchen aus blondem Haar auf dem Kopf. Trotzdem war es das Wunderbarste, das er je gesehen hatte.

»Ist er nicht wunderschön?«, fragte sie.

92
{"b":"195231","o":1}