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»Sollen wir uns verstecken?«, murmelte Beth in sein Hemd, und Carter antwortete: »Ja, da oben«, und deutete auf den Boden. Der Plan war genauso gut wie jeder andere. Aber er wusste auch, dass es nicht viel brachte. Sicherlich wusste Arius, wohin sie verschwunden waren. Oder würde es früh genug irgendwie herausfinden.

Er hielt die wackelige Leiter fest und ließ Beth als Erste hinaufklettern. Der Boden war ziemlich geräumig, aber an der Rückseite offen, so dass sie die dunkle Landschaft sehen konnten. Wenn es früher einmal Türen gegeben hatte, waren sie längst verschwunden. Der Holzboden war mit Haufen aus modrigem verfaultem Heu bedeckt, und an den Wänden hingen verloren ein paar rostige Werkzeuge, eine alte Heugabel, eine Harke und eine Hacke. »Zieh den Kopf ein«, sagte Carter und kniete sich neben Beth, »und lass dich nicht blicken.«

Doch als er begann, sich von ihr zu lösen, umklammerte sie seinen Arm und sagte: »Wo willst du hin?«

»Ich lasse dich nicht allein. Ich will mich nur umschauen. Vielleicht gibt es hier etwas, das uns von Nutzen sein könnte.« Er hatte gerade ihre Finger von seinem Ärmel gelöst und sich erhoben, als die Scheunentüren gegen den Querbalken schlugen, der sie verschloss.

»Er ist hier«, stöhnte Beth.

Carter hatte es gewusst.

Die Türen klapperten erneut. Der Querbalken wackelte, und durch den schmalen Spalt zwischen den Torflügeln schoss ein heller Lichtstreifen wie ein leuchtender Dolch auf den dreckigen Boden.

»Ich gehe runter«, sagte Carter, doch Beth umklammerte erneut seinen Ärmel und sagte: »Nein! Bleib hier!«

Aber Carter wollte nicht abwarten, bis der Feind zu ihm käme. Er kletterte die Leiter hinab und schlich verstohlen auf die Tür zu.

Die Torflügel dröhnten erneut, als würden sie von einem Vorschlaghammer getroffen, und ein Stück Holz flog davon. Carter kroch zur Tür, wartete, bis alles still war und schob dann vorsichtig ein Auge vor die Öffnung.

Ein anderes Auge starrte ihm direkt entgegen, so nah, dass die Wimpern beinahe seine eigenen berührten.

»Wir sind eigentlich keine Feinde«, sagte Arius. Sein Atem roch wie ein immergrüner Wald nach dem Regen. Carter wollte zurückspringen, aber etwas hielt ihn an Ort und Stelle. Im Auge des Engels war etwas, eine sich kräuselnde Flamme in der Iris, die ebenso hypnotisierend wirkte wie der Anblick eines knisternden Feuers.

»Wir haben ein gemeinsames Interesse.«

Carter konnte sich denken, was das war, und das schickte einen kalten Schauder über seinen Rücken. Ohne den Blick von der Öffnung zwischen den Torflügeln abzuwenden, wich er ein paar Zentimeter zurück. Doch es war, als versuchte er, einer unsichtbaren Macht Widerstand zu leisten. In der Stimme des Engels lag eine eindringliche Verführungskraft, etwas, das sie … vertraut wirken ließ. Wie die Stimme eines alten Freundes, den man seit Jahren nicht gesprochen hatte.

Und den man zutiefst vermisst hatte.

Carter hatte das Gefühl, seine Hände, seine Gedanken, selbst sein Wille würden auf raffinierte Weise umsponnen. Er wusste, was er tun musste, wusste, was er wollte, aber Arius’ Stimme, dieses goldene Licht, der frische Waldgeruch überwältigten ihn beinahe.

Eine lange weiße Hand, perfekt geformt bis auf den Mittelfinger, von dem nur noch ein Stumpf übrig war, schob sich durch die Öffnung unter den Querbalken, der die Tür verschloss. »Lass uns reden«, sagte Arius ruhig, so wie ein Vermittler der Polizei jemanden ansprechen würde, der gerade im Begriff war, von einer Brücke zu springen.

Stumm vor Entsetzen sah Carter zu, wie die Finger den Querbalken packten und in die Höhe schoben. Der Balken hob sich einen Zentimeter, dann zwei. Er war bereits fast ganz gelockert, als Beth vom Heuboden rief: »Carter! Nein!«

Es war, als hätte ihm jemand einen Eimer mit Eiswasser ins Gesicht geschüttet.

»Halt ihn auf, Carter!«

Er schüttelte sich, schaute erneut auf die schmale Hand, die den Querbalken anhob, und stellte fest, dass sie jetzt eher der weißen knöchrigen Hand eines Skeletts glich. Es war die Hand, die seinen Freund Joe getötet hatte, die Hand, die Tod und Zerstörung über die Welt bringen konnte. Krachend riss er den Querbalken nach unten, und die Hand wurde hastig zurückgezogen.

Die Türflügel stießen erneut gegeneinander.

Abrupt erlosch das helle Licht auf der anderen Seite, und genauso plötzlich herrschte Stille. Kein wütender Aufschrei, kein verärgerter Fluch, nicht einmal Flügelschlagen. Carter stand ganz still und lauschte, aber alles, was er außer seinem eigenen flatternden Atem hörte, war das Zirpen der Grillen.

Er trat zurück, den Blick immer noch auf die Scheunentore geheftet. »Wo ist er?«, hörte er Beth fragen.

»Ich weiß es nicht.«

»Aber er ist doch weg, oder? Das Licht ist verschwunden.« In ihrer Stimme schwang eine Mischung aus Wunschdenken und Beinahe-Hysterie mit.

Ja, das Licht war verschwunden. Ja, es war kein Ton zu hören. Und so sehr Carter auch wünschte, es könnte so einfach sein, wusste er, dass es das nicht war. Er wusste nicht, wo Arius war oder was er vorhatte, aber tief im Herzen war ihm klar, dass er nicht gegangen war.

Er entfernte sich noch weiter von der Tür. Der einzige Weg, wie er es mit Sicherheit herausfinden konnte, war, das Tor zu öffnen und sich draußen umzuschauen.

Aber dazu war er noch nicht bereit.

Er drehte sich um und sah Beths Kopf über die Kante des Heubodens lugen. Ihr Gesicht war schmutzig und zerkratzt, das dunkle Haar verfilzt, halb an ihrem Kopf angefroren und mit hellen abgebrochenen Strohhalmen verziert. Trotzdem war er sich sicher, dass sie nie in ihrem Leben schöner ausgesehen hatte. Erneut erklomm er die Leiter, ohne die Scheunentür aus den Augen zu lassen. Beth fiel ihm um den Hals. Eine Weile standen sie nur da und wiegten sich behutsam hin und her, ohne ein Wort zu sagen. Er hob eine Hand, um ihr übers Haar zu streichen, doch als er Beths Zittern spürte, legte er sie stattdessen auf den Rücken und versuchte, sie warmzurubbeln. Durch die offene Rückseite drang kalte Nachtluft auf den Heuboden.

Wie lange sie auf diese Weise dastanden, hätte er nicht sagen können. Er hatte die Augen geschlossen und wollte sie am liebsten nie wieder öffnen. Er wollte einfach nur Beth festhalten und glauben, dass die Gefahr vorüber sei. Er wollte sich vorstellen, sie seien in Sicherheit und Abbie im Haus am Leben und unverletzt. Doch das Gefühl wurde immer drängender, dass er die Augen wieder öffnen musste, und zwar auf der Stelle. Sie waren nicht mehr allein in der Scheune.

Er schlug die Augen auf. Es war immer noch dunkel. Er machte Shhh zu Beth und bedeutete ihr, sich auf den Boden zu kauern. Dann drehte er sich um und schaute zu den Holztüren. Der Querbalken war immer noch an seinem Platz und die Türen geschlossen. Nirgends in der Scheune entdeckte er ein Zeichen von Arius, aber das Gefühl wollte nicht verschwinden, und sein Nacken hörte nicht auf zu kribbeln.

»Ihr werdet geboren«, sagte die Stimme, »und schreit.«

Carter wirbelte herum. Im tiefsten Schatten unter einem Vorsprung hockte Arius auf einem uralten Heuballen. Sein nackter Körper strahlte im Moment kein Licht ab. Rein und weiß saß er vollkommen reglos da.

»Ihr lebt in Angst.« Seine Stimme war grabesdunkel und seltsam schwermütig.

Langsam schob Carter sich zwischen Beth und den Engel.

»Und ihr sterbt voller Furcht.«

Beth kauerte sich an der Wand unter den Werkzeugen zusammen.

»Aber so müsste es nicht sein.« In der Finsternis unter den Dachsparren war der Engel kaum zu erkennen. »Hätte es nie sein müssen.«

So sehr es Carter auch widerstrebte, den Blick von der reglosen Gestalt abzuwenden, er musste sich nach irgendeiner Art Waffe umschauen. Nach irgendeiner Möglichkeit, zu entkommen. Aber was für ein Entkommen konnte das schon sein? Die Leiter würden sie niemals erreichen, und ein Sprung vom Heuboden aus auf den harten Boden draußen könnte sie glatt umbringen.

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