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Er konnte Abbie auf dem großen Messingbett erkennen, die Arme über dem Kopf. Sie trug ein weißes Nachthemd, das an ihren Oberschenkeln nach oben gerutscht und verdreht war. Die Laken waren weggestoßen und hingen auf den Boden, als hätte sie sich im Schlaf hin und her geworfen. Zumindest von seinem Beobachtungsposten aus schien daran nichts ungewöhnlich zu sein. Sie musste bei eingeschaltetem Licht eingeschlafen sein. Carter passierte das ständig, dass er am Morgen mit einem aufgeschlagenen Buch auf der Brust aufwachte, und er fühlte sich ein wenig schuldig, weil er sie jetzt dabei beobachtete.

Aber dann schien sich etwas zu verändern. Das Licht im Zimmer veränderte sich, als ein Schatten drohend über dem Kopfteil aus Messing auftauchte. Jemand war bei Abbie im Zimmer, stand aber so, dass Carter ihn nicht sehen konnte. Bitte, betete er, lass es nur Beth sein. Oder Ben, der seine Pläne geändert hat und doch mit ihnen aufs Land gefahren ist. Der Schatten wurde größer, und dann sah er, nein, es war nicht Beth. Und auch nicht Ben. Es war eine hochgewachsene Gestalt, steif und gerade wie eine Marmorstatue, mit leuchtend goldenem Haar. Während er mit wachsendem Entsetzen zusah, trat die Gestalt auf das Bett und Abbie zu. Jetzt erkannte Carter, dass sie nicht schlief und dass sie ihre Arme nicht nur über den Kopf gelegt hatte. Sie waren irgendwie an die Bettpfosten aus Messing gefesselt.

Was sollte er tun? Sollte er einen Warnschrei ausstoßen? Oder die Scheibe einwerfen? Er sah sich um und entdeckte ein paar lose Ziegel im Dreck. Ben hatte ihm erzählt, dass sich an der Stelle einst eine Veranda befunden hatte. Er eiste einen Stein von dem fast gefrorenen Boden los, doch unvermittelt wurde er von einem verstohlenen Geräusch über ihm abgelenkt. Nur wenige Meter von ihm entfernt fielen lose Schuttteile auf den Boden. Er blickte auf und sah einen nackten Fuß, der auf dem steilen abschüssigen Schindeldach nach Halt suchte. Ein dünner abgestorbener Zweig fiel vom Dach.

Dann tauchte Beth auf. Sie trug nichts als den kurzen weißen Bademantel, den er ihr zum Valentinstag geschenkt hatte. Sie kletterte auf das Dach und schaute verzweifelt in alle Richtungen. Direkt hinter dem Haus fiel der Boden steil ab, und vom Dach bis nach unten waren es gut sechs Meter.

Carter warf den Stein fort und kroch von dem Busch fort. Ohne ein Wort zu sagen, winkte er mit den Armen, um Beth auf sich aufmerksam zu machen. Fassungslos erstarrte Beth. Selbst von hier unten konnte er ihre vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen erkennen, während er ihr durch Gesten zu verstehen gab, durchzuhalten. Spring nicht! Er formte die Worte mit dem Mund Warte! Dann rannte er zur Vorderseite des Hauses.

Er wusste, dass er zwischen den Betonziegeln und Dielenbrettern eine Leiter gesehen hatte. Sie lag zusammengeklappt auf dem Boden, und das Metall fühlte sich kalt und glatt an, als er es berührte. Er hob die Leiter vom Boden hoch, um jedes Geräusch zu vermeiden, und schleppte sie zur Rückseite des Hauses.

Mit beiden Händen klammerte Beth sich an die Fensterbank, als Carter sich mit der Leiter abmühte, um sie aufzuklappen. Beths Füße begannen zu rutschen, und ein Regen aus Dreck und totem Laub löste sich von den Schindeln. Carter drückte das zentrale Scharnier mit der Hand nach unten und lehnte die Leiter genau unter das Badezimmerfenster.

Sie war nicht lang genug.

»Warte«, flüsterte er und hoffte, dass sie ihn hören konnte, »warte!«

Rasch kletterte er bis nach oben und streckte die Hand aus. »Lass dich runter«, flüsterte er. »Ich fang dich auf.«

Beth ließ eine Hand los und streckte sie Carter entgegen. Er konnte sie immer noch nicht erreichen. »Du musst die andere Hand auch loslassen«, drängte er, und Beth gehorchte widerstrebend. Sie rutschte ein Stückchen, eine Schindel löste sich und rollte über ihren Fuß. Doch gerade, als sie vollends die Balance zu verlieren drohte, bekam Carter ihre Hand zu fassen.

»Halt durch!«, sagte er und zog sie zu sich, während er schwankend auf der höchsten Sprosse der Leiter stand. Einen Augenblick glaubte er, sie würden beide hintenüber kippen. Doch Beth bohrte ihre Zehen in die losen Schindeln und bremste ihren Fall. Carter stieg ein paar Sprossen herunter, dirigierte Beth auf die Leiter und langsam nach unten.

Sobald sie den Boden erreicht hatten, zog er sie in ihre Arme. Sie zitterte, und als er ihr Haar küsste, stellte er fest, dass es nass und eiskalt war. Er zog ihren Bademantel weiter zu und verknotete den Gürtel.

»Abbie …«, flüsterte Beth, »sie ist immer noch drinnen …«

»Ich weiß.«

»… mit ihm«, beendete sie den Satz schaudernd.

Er musste Beth dazu überreden, zu verschwinden und sich irgendwo weit weg vom Haus in Sicherheit zu bringen. Aber wohin, und wie? Es war kein anderes Haus zu sehen, und das Auto der Metzgers würde nicht so bald aus dem Graben kommen.

»Du hast nicht zufällig Abbies Wagenschlüssel, oder?« Doch er kannte die Antwort, ehe er die Frage überhaupt gestellt hatte.

»Was? Nein.« Beth befreite sich aus seiner Umarmung. »Wir müssen ihr helfen.«

»Beth, du kannst nichts tun«, sagte Carter. »Lass mich dich in Sicherheit bringen, und dann komme ich zurück und helfe Abbie, ich schwöre es dir.« Doch wie ein Kämpfer, der schon einiges hatte einstecken müssen, taumelte Beth bereits auf das erleuchtete Fenster des unteren Schlafzimmers zu.

»Beth … bleib stehen«, mahnte er und folgte ihr.

Aber sie befanden sich bereits beide in dem schwachen Lichtrechteck, das aus dem Fenster nach draußen fiel. Beth blieb stehen, starrte in das Zimmer mit dem großen Messingbett, den dazu passenden Nachttischen und dem orientalischen Teppich. Carter blickte ebenfalls hinein, aber alles was er sah, war ein leerer Raum.

»O mein Gott«, sagte Beth und trat näher, den Blick nach oben gerichtet. Jetzt sah auch Carter, was sie entdeckt hatte. Oben an der Zimmerdecke, sich langsam drehend wie ein leuchtender Stern, schwebte Arius. Sein Körper umschlang Abbies und hielt sie beide in der Luft über dem Bett. Ihr Kopf hing im Nacken, als hätte sie das Bewusstsein verloren, und die Arme, die bis auf einen Bademantelgürtel an einem Handgelenk nackt waren, baumelten schlaff an den Seiten.

Arius’ Leib pulsierte in einem goldenen Licht, als er sie in seiner Umarmung nahm. Unwillkürlich musste Carter an einen Naturfilm denken, den er einmal gesehen hatte. Libellen hatten sich mitten in der Luft vereinigt und hektisch mit den Flügeln geschlagen, während sie an Ort und Stelle zu stehen schienen.

Beth hatte den Stein gefunden, den Carter vorhin hineinwerfen wollte, und richtete sich auf.

»Beth«, sagte er, »was tust du da?«

»Das muss aufhören«, sagte sie heiser, und ehe er sie aufhalten konnte, hatte sie den Stein geworfen, direkt in das Schlafzimmerfenster.

Das Fenster erzitterte beim Aufprall, tausend kleine Risse bildeten sich wie bei einem Spinnennetz, doch die Scheibe blieb ganz.

Im Schlafzimmer klammerte Arius sich immer noch an den Körper seines Opfers, doch langsam wandte er den Kopf zum Fenster.

Beth hob einen weiteren Stein vom Boden auf und warf erneut. Dieses Mal zersplitterte das beschädigte Fenster, und die Glasscherben stürzten wie ein Wasserfall herab.

Arius ließ Abbie los, so dass sie rücklings aufs Bett fiel.

Mehr brauchte Carter nicht zu sehen. »Komm«, brüllte er und zog an Beths Hand. »Komm schon!«

Er zerrte sie vom Haus fort und in die Dunkelheit des dahinterliegenden Feldes. Barfüßig stolperte Beth über den unebenen Boden, und Carter musste sie wieder aufrichten und sie weitertreiben. Aber wo sollten sie hin? Am Ende des Feldes, in über einhundert Metern Entfernung, lag die aufgegebene Apfelplantage. Die schwarzen Zweige der abgestorbenen Bäume glitzerten im Mondlicht, und dahinter ragte der einzige Schlupfwinkel weit und breit auf.

»Die Scheune!«, rief er und hielt immer noch Beths Hand fest.

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