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Alles in allem war es besser, wenn er die Brille aufbehielt.

Hin und wieder blieb er bewusst stehen und sog die Luft ein. Obwohl das Auto nirgends zu sehen war, das Auto, in dem die Frau saß, die nach Hyazinthen roch, gelang es ihm, ihre Spur zu verfolgen. Er ließ sich von ihrem Duft leiten. Er spürte das Zucken der feinen Fäden seines unsichtbaren Netzes, und diesem konnte er nachgehen.

Es führte ihn fort vom Fluss und in das Herz der Stadt. Bald fand er sich auf einer breiten geschäftigen Straße wieder, vor einem Gebäude mit rotem Vordach und schweren Türen aus poliertem Messing. Dort hinein war sie gegangen.

Ein uniformierter Mann hielt ihm die Tür auf, als er eintrat, und hieß ihn in etwas willkommen, das Raleigh Galerie der bildenden Künste hieß.

»Danke«, erwiderte Arius, stets erfreut, seine Worte und seine Stimme zu hören und so leicht akzeptiert zu werden.

Nachdem er eingetreten war, ahnte er, dass die Dinge sich erneut glücklich zusammenfügten. Nicht nur, dass die Hyazinthenfrau ganz in der Nähe stand und eine Zeichnung betrachtete. Die Frau, die ihr das Bild zeigte, war die Frau, die bei Carter lebte. Elizabeth lautete der Name, den er auf dem Briefkasten gelesen hatte.

Sein Netz war gerade sehr viel stärker geworden.

Während er sie beobachtete und feststellte, dass sie tatsächlich denselben unterschwelligen Geruch an sich hatten, kam ein kleiner Mann auf ihn zu, sehr eifrig, sehr freundlich, und streckte ihm die Hand entgegen.

»Ich glaube, wir hatten noch nicht das Vergnügen«, sagte der Mann, »aber ich bin Richard Raleigh, der Eigentümer der Galerie.«

Arius streckte seine Hand aus und nickte.

»Und Sie sind?«, bohrte Raleigh nach.

»Mein Name ist Arius.«

»Höre ich da einen Akzent?«, sagte Raleigh und lächelte breit. »Gewöhnlich bin ich sehr gut darin, ihn genauer zu bestimmen. Aber bei Ihnen komme ich nicht darauf, und wenn es um mein Leben ginge. Darf ich fragen, woher Sie kommen?«

»Von weit her«, erwiderte Arius.

Raleigh nickte und wusste genug, um nicht weiter zu drängen. Sein ganzes Leben lang hatte er mit betuchten, selbst mit adligen Ausländern zu tun gehabt, und er wusste, wann er sich zurückhalten musste. Manche von ihnen versuchten, wie ganz gewöhnliche Leute zu wirken, doch Raleigh pickte sie aus einer Menschenmenge auf hundert Schritt Entfernung heraus. Er musste allerdings zugeben, dass dieser Knabe hier noch ungewöhnlicher war als die meisten. Er war etwa einen Meter fünfundachtzig groß, trug eine Sonnenbrille, die er offensichtlich nicht abzunehmen gedachte, und war teuer, aber unaufdringlich gekleidet. Er trat auf wie ein königlicher Machthaber. Zurückgeworfener Kopf, breite Schultern, modisch langes Haar, das sich genau über dem Hemdkragen kräuselte. Nur mit Mühe konnte Raleigh den Blick von ihm abwenden.

»Gestatten Sie mir, Ihnen ein wenig über unsere Galerie zu erzählen. In diesem Raum werden Sie die meisten Werke in Öl sowie den Großteil der Aquarelle finden, die wir momentan zum Verkauf anbieten. Aber in der oberen Etage haben wir noch eine Galerie, um bestimmte Arbeiten in privaten Schauen zeigen zu können. Zumeist handelt es sich dabei um Zeichnungen und Drucke der Alten Meister.«

Arius sagte nichts, trat jedoch näher an eines der Gemälde heran, eine Szene von Mariä Verkündigung aus dem sechzehnten Jahrhundert. Mit den langgestreckten Formen und verdrehten Perspektiven war es ein typisches Beispiel des Manierismus.

»Das ist eine besonders ausgezeichnete Arbeit«, sagte Raleigh, »die erst kürzlich auf den Markt kam. Sie befand sich seit dem späten sechzehnten Jahrhundert im Besitz einer einzigen österreichischen Familie. Das Stück wird Fra Bartolommeo zugeschrieben. Sind Sie mit seinem Werk vertraut?«

Mit geneigtem Kopf betrachte Arius das Gemälde, als versuchte er, die veränderte Perspektive zu kompensieren. »Nein.«

»Nicht viele Menschen kennen seine Arbeiten«, beeilte Raleigh sich zu sagen, stets eifrig bemüht, potentiellen Kunden zu versichern, das, was sie nicht wussten, sei ohnehin nur ausgewiesenen Experten bekannt. »Doch falls Sie mehr darüber erfahren möchten, unsere Kunsthistorikerin, die jedes Stück unserer Sammlung genauestens kennt, ist heute zufällig im Hause.« Er deutete auf Elizabeth, die daraufhin in Arius’ Richtung blickte.

Sie war ziemlich schön, dachte Arius. Sogar noch schöner als die Hyazinthenfrau.

»Beth ist im Augenblick mit einer anderen Kundin beschäftigt«, sagte Raleigh, »aber ich werde Sie mit ihr bekannt machen, sobald sie frei ist.« Raleigh wusste, dass Beth es irgendwie schaffte, mühelos das Vertrauen neuer Kunden zu gewinnen … und sie, mit Ausnahme von Bradley Hoyt, dem jungen Dot-com-Multimillionär, zu einem Kauf zu bewegen.

»Ich möchte sie gerne jetzt kennenlernen«, sagte Arius.

Jetzt? Raleigh wusste nicht sofort, was er tun sollte. Beth beriet gerade Kimberly Metzger, eine seiner meistgeschätzten Kundinnen. Erst letzten Monat hatte er ihr ein flämisches Porträt für fast eine halbe Million Dollar verkauft. Er konnte die beiden Frauen jetzt schlecht unterbrechen. Aber als er zu ihnen hinüberschaute, stellte er fest, dass Kimberly dem geheimnisvollen Fremden bereits mehr Aufmerksamkeit schenkte als Beths Ausführungen.

»Habe ich einen Rivalen für dieses Gemälde?«, fragte sie jetzt neckend.

»Nein, nein, ganz und gar nicht«, erklärte Raleigh, »aber wenn Sie gestatten, würde ich Sie gerne einen Moment stören.«

Mehr brauchte er nicht zu sagen. Kimberly trat vor, reichte Arius die Hand und stellte sich selbst vor. »Ich kenne jeden in New York, der etwas von Kunst versteht«, sagte sie, »aber ich bin sicher, dass ich Sie nicht kenne.«

»Mr Arius ist nur zu Besuch in der Stadt«, sagte Raleigh und warf ihm rasch einen fragenden Blick zu, ob das korrekt war. Arius erhob keine Einwände.

»Stimmt das, Mr Arius?«, fragte sie. »Sind Sie neu in der Stadt?«

»Ja.«

»Wie lange haben Sie vor zu bleiben?«

»Das kann ich noch nicht sagen«, erwiderte er.

Raleigh, der nicht wollte, dass sich die Unterhaltung zu weit vom Geschäftlichen entfernte, zog rasch Beth hinzu. »Und dies ist Beth Cox, die alles über unsere Sammlung weiß, was es zu wissen gibt.«

»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen«, sagte Beth.

»Ebenfalls!«

»Haben Sie zufällig eine Karte?«, fragte Kimberly und trat Beth gewissermaßen auf den Zeh. »Mein Gatte – Sam Metzger – und ich bewirten oft Gäste in unserer Stadtwohnung, und wir sind stets auf der Suche nach frischem Blut.«

»Nein, ich habe keine … Karte«, sagte Arius. Ein weiterer Brauch, den ich mir aneignen muss.

»Oh. Dann lade ich Sie besser auf der Stelle ein. Sehen Sie, wir werden morgen Abend eine kleine Zusammenkunft haben, um halb acht, für die Kampagne zur Wiederwahl des Bürgermeisters. Am Sutton Place Nummer eins. Können Sie sich das alles merken?«

Arius lächelte. »Ja, das kann ich. Danke.«

»Sie werden also kommen?«, fragte sie kokettierend.

Er nickte, den Blick immer noch hinter den dunklen Gläsern verborgen.

Beth und Raleigh wechselten einen Blick, als wollten sie sagen: Das ist doch nicht zu fassen! Ihr waren bereits unzählige Gerüchte über Kimberly Metzgers Privatleben zu Ohren gekommen, aber so eine unverhohlene Anmache hatte Beth noch nie erlebt. In diesem besonderen Fall konnte sie es allerdings fast verstehen. Arius war in der Tat eine ziemlich umwerfende Erscheinung. Er war etwa so groß wie Carter, doch sein Haar war so blond, dass es beinahe weiß war, und glänzte in den Deckenlampen der Galerie. Seine Haut war ebenfalls nahezu makellos, nein, korrigierte sie sich, sie war vollkommen makellos, und seine Gesichtszüge wirkten, als seien sie aus einem Block lupenreinen Marmors herausgemeißelt. Seine Augen blieben hinter den dunklen Gläsern verborgen, und sie fragte sich flüchtig, was für ein Kunstliebhaber er schon sein konnte, wenn er bei der Betrachtung von Gemälden die Brille aufbehielt? Der einzige Farbtupfer in seinem Gesicht waren die Lippen, dunkelrosa, pulsierend vor Leben und ebenso voll wie die einer Frau. Verlockend und verschlagen zugleich.

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