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Ganz vorn in der kleinen Kapelle stand der Sarg auf einer mit rotem Stoff behängten Tragbahre. Der Deckel war natürlich geschlossen. Carter hatte gehört, dass Mitchells Körper von der Explosion in Stücke gerissen worden war. Einige Teile waren, ebenso wie Stücke seiner Kleidung oder seine Schuhe, überhaupt nicht wiedergefunden worden. Als Suzanne stockend ins Mikrophon sprach, das am Rednerpult befestigt war, fragte Carter sich, wie viel von ihrem Mann genau eingesammelt und wie die Teile für die Beerdigung vorbereitet worden waren. Er begriff, dass es makaber war, was er da tat, aber angesichts seines Berufs war es vielleicht auch nicht weiter überraschend. Knochen waren sein Job, sogar sein Spitzname bezog sich darauf, und vielleicht war es die einzige Möglichkeit, mit so etwas Bizarrem umzugehen, indem er es mit dem gewohnten Abstand betrachtete.

Nachdem Bills Witwe fertig war, stand sein Vater auf, um ein paar Worte zu sagen. Langsam las er sie von einem zerknitterten Stück Papier ab, und Carter hatte den Eindruck, dass er sie ebenso mühevoll aufgeschrieben hatte. Er war nicht der Typ, um über seine Gefühle oder Erinnerungen zu sprechen, und es nun bei der Trauerfeier seines eigenen Sohnes vor all diesen Fremden tun zu müssen, war sicherlich mehr, als er bewältigen konnte.

Carter war als Nächster an der Reihe, und er verstand seine Aufgabe so, dass er für die große Welt sprechen und allen versichern sollte, dass Bill auch in der akademischen Welt respektiert und bewundert worden war. In den heiligen Hallen der Wissenschaft, in denen er gehofft hatte, sich einen Namen zu machen. Als Carter das Podium betrat, dachte er, dass er dank Bills Frau endlich ein Thema für seine Rede gefunden hatte. Als sie gesagt hatte, dass Bill niemals warten konnte, dass er stets versucht hatte, die Dinge zu beschleunigen, hatte sie ihm ein Stichwort geliefert, mit dem er alles andere verknüpfen konnte.

Bill Mitchell, begann Carter, sei ein junger Mann in ständiger Eile gewesen. »Er hatte es bereits weit gebracht. Er war eines der jüngsten Mitglieder des Fachbereichs und zweifelsohne das wissbegierigste, und er war bereits dabei, in Rekordgeschwindigkeit noch größere Leistungen zu vollbringen.« Während er sprach, erwärmte er sich langsam für seine Aufgabe. Je länger er sprach, desto lieber mochte er den armen Kerl. Außerdem stellte er fest, dass die Erfahrung, eine Trauerrede zu halten, einer Vorlesung vor Studenten im Hörsaal verdächtig ähnelte. Mittlerweile war das Reden in der Öffentlichkeit für ihn zur zweiten Natur geworden. Während er aus dem Stegreif auf die vielen Tugenden und Erfolge von Bill Mitchell zu sprechen kam, konnte er sich sogar in der Kapelle umschauen und registrieren, wer alles da war, wen er kannte und wen nicht.

Eine Menge Leute aus dem Fachbereich waren gekommen, einschließlich des Leiters Stanley Mackie, zusammen mit ein paar anderen Gesichtern, die er hin und wieder auf dem Campus gesehen hatte. Dann waren da Mitchells Verwandte und Freunde, die er natürlich nicht kannte. Ein Typ, der zu keiner der beiden Gruppen zu gehören schien, saß ganz für sich allein auf einer der letzten Bänke. Er trug einen zerknitterten blauen Anzug sowie einen schwarzen Rollkragenpullover und sah aus, als hätte er seit einer Woche nicht geschlafen. Er hatte etwas so Feierliches und Zurückhaltendes an sich, dass Carter nach genauerem Nachdenken zu dem Schluss kam, dass er für das Bestattungsinstitut arbeiten musste. Er hatte das Aussehen eines professionellen Trauergastes.

Carter beendete seine Rede mit den Worten, dass er Bills Gegenwart im Labor der Fakultät immer vermissen würde, und »ohne Bill, der mich stets auf dem Laufenden hielt, werde ich nie wieder wissen, wer gerade an der Spitze der aktuellen Musikcharts steht«. Er sagte es mit einem traurigen, wehmütigen Lächeln, das von mehreren Leuten in den Bankreihen erwidert wurde. Dann faltete er seine Notizen zusammen und verließ das Podium. Dabei bemerkte er, dass der Typ ganz hinten aufstand und leise die Kapelle verließ. Vielleicht hatte er noch andere Pflichten, oder er musste eine andere Trauerfeier mit seiner tieftraurigen Anwesenheit beglücken. Carter nahm wieder Platz, und Beth nickte ihm verstohlen zu, um ihn wissen zu lassen, dass er seine Sache gut gemacht hatte.

Nachdem die Trauerfeierlichkeiten vorüber waren, begaben sich alle in das Vestibül, wo Kaffee und Kuchen bereitstanden. Carter fand sich Ellenbogen an Ellenbogen neben Stanley Mackie wieder, der seine Tasse unter den Zapfhahn einer silbernen Kaffeemaschine hielt. Während der Kaffee lief, sagte er: »Freundliche Worte, aber ein schwacher Trost.«

Carter wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Er hatte bereits persönlich mit dem Fachbereichsleiter gesprochen, doch er hatte keine Ahnung, wie viele Scherereien ihm noch bevorstanden.

Mackie hob seine Tasse und starrte Carter über den Rand hinweg an. »Das Büro des Unipräsidenten hat mich gebeten, einen unterschriebenen schriftlichen Bericht des Unfalls einzureichen. Ich werde mich um das Begleitschreiben kümmern, aber ich möchte, dass Sie den Bericht schreiben und in allen Einzelheiten darlegen, was Sie eigentlich in Ihrem sogenannten Labor getrieben haben und was dabei schiefgegangen ist.«

Er hatte auch schon in früheren Diskussionen von Carters »sogenanntem Labor« gesprochen, und Carter merkte, dass Mackie sich von dem ganzen Projekt distanzierte. Auf einmal hatte Carter das vollkommen allein ausgebrütet, und er, der Leiter, hatte kaum etwas davon mitbekommen. Im Stillen fragte Carter sich, wie Mackie die Ausgaben aus dem Geldtopf des Fachbereichs erklären wollte, für die Scheinwerfer, den Transport des Lasers und so weiter. Doch die belastenden Dokumente waren vermutlich längst vergraben, geschreddert und gelöscht. In seinem Begleitbrief würde Mackie zweifelsohne jeden Rest von Verantwortung abstreiten oder verschleiern. Am Ende würde Carter derjenige sein, an dem alles hängenblieb.

»Ich will den Bericht bis nächsten Mittwoch in meinem Büro haben«, sagte Mackie und entfernte sich, als wollte er nicht dabei gesehen werden, dass er zu viel Zeit in Carters Gesellschaft verbrachte.

Obwohl er jetzt eigentlich einen ordentlichen Schluck aus der Bar hätte gebrauchen können, füllte Carter seine Tasse mit Kaffee aus der Kaffeemaschine.

»Sie haben eine gute Rede gehalten, Professor.«

Noch ehe er sich umgedreht hatte, wusste Carter, dass es Katie Coyne war, seine Musterschülerin. Er hatte sie in der Kapelle gesehen.

»Danke. Ich hoffe, ich muss so etwas nie wieder machen.«

Sie trug einen Jeansrock und ein sorgfältig gebügeltes Arbeitshemd. Vielleicht war es das ordentlichste Outfit, das sie zusammenbekam.

»Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie gekommen sind«, sagte er.

»Bill Mitchell war letztes Semester der Tutor in einem Seminar, das ich belegt hatte.«

Das hatte Carter nicht gewusst.

»Deshalb denke ich, dass ich ihn ziemlich gut kannte. Ich war sogar auf seiner Halloweenparty und habe mich dort mit Ihrem Freund, Professor Russo, unterhalten.« Sie blickte auf ihre Füße hinunter und sagte dann zögernd: »Wie geht es ihm? Ich habe gehört, dass er bei dem Feuer ziemlich schwer verletzt wurde.«

»Ja, das stimmt. Er liegt im St. Vincent’s Hospital, auf der Intensivstation.«

»Wird er wieder gesund?«

»Ja, er wird durchkommen. Aber es wird eine ganze Weile dauern.«

»Können Sie ihm Grüße von mir ausrichten? Ich meine, wenn er sich überhaupt an mich erinnert. Und wenn er wieder fit genug ist, glauben Sie, er würde sich freuen, wenn ich vorbeikäme und ihm einen Besuch abstattete?«

»Das wäre großartig. Ich weiß, dass er sich freuen würde.« Dass Katie seine klügste Studentin war, hatte er schon immer gewusst, aber jetzt ahnte er, dass sie auch die netteste war.

Beth machte ihm von der anderen Seite des Raumes aus Zeichen, wo sie mit einem von Carters Kollegen aus der Fakultät sprach. Mit dem Mund formte sie die Worte Sollen wir gehen?, und Carter nickte. Er nahm einen letzten Schluck Kaffee und stellte die Tasse auf den Tisch. »Ich sehe Sie morgen«, sagte er zu Katie. Sie saß in seiner Frühvorlesung.

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