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Sie sah ihn ausdruckslos an. Sie hatte es ihm noch nicht abgekauft. »Und die Stimmen? Von den Engeln?«

»Ich habe nie behauptet, dass es tatsächlich Engel seien, die zu mir sprachen. Selbst in meinen schlimmsten Zeiten habe ich das nie gesagt.«

Aber sie ließ nicht zu, dass er der Frage auswich. »Egal, was Sie glauben, wessen Stimmen das waren: Hören Sie sie immer noch? Sie müssen es mir sagen, Ezra, falls Sie akustische Halluzinationen haben. Andernfalls wäre es sehr schwierig für mich, Ihnen zu helfen.«

Das war nun wirklich zum Lachen. Allein die Vorstellung, dass Dr. Neumann ihm Hilfe anbot, die über das Ausstellen von Rezepten hinausging, war ein Witz.

»Nein, ich habe keine Halluzinationen«, sagte er, wieder einmal die Wahrheit sorgsam verschleiernd. »Alles, was ich höre und sehe, ist real.«

Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, lag noch einiges an Überzeugungsarbeit vor ihm.

Auch seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Mittlerweile saß er im Esszimmer im Apartment am Sutton Place und musste sich zusammenreißen, um nicht von seinem Stuhl aufzuspringen und davonzustürzen. Doch der Preis dafür, dass er hier wohnen durfte, bestand darin, gelegentlich Szenen wie diese ertragen zu müssen.

Sein Vater saß am Kopf des Tisches, gekleidet in einen seidenen Smoking. Wann hatte er eigentlich angefangen, so etwas zu tragen? Kimberly saß perfekt frisiert, geschminkt und gekleidet am anderen Ende, und Ezra hockte in der Mitte. Mit seiner Jeans und dem Sweatshirt von H&M fühlte er sich eindeutig falsch angezogen.

Gertrude stellte die Schüssel mit den sautierten Kartoffeln und Zwiebeln neben Ezras Ellenbogen. »Iss, so viel du magst, aber lass noch Platz für den Nachtisch«, sagte sie, ehe sie sich umdrehte und in Richtung Küche ging.

»Das wäre dann alles, Gertrude«, sagte Kimberly unnötigerweise, als die Tür sich bereits hinter ihr schloss.

Ezra nahm von den Kartoffeln und Zwiebeln und versuchte dann, sie an Kimberly weiterzureichen, die ihre Hände hob, als biete er ihr eine Schüssel voll ranziger Milch an. Stattdessen gab er sie an seinen Vater weiter, der einen Ärmel seines zu engen Smokings zurückschieben musste, um heranzureichen.

»Ich habe heute zufällig mit jemandem von der israelischen Botschaft gesprochen«, sagte Sam bedeutungsschwer.

Ezra hielt den Kopf gesenkt und aß sein Kalbfleisch mit Kartoffeln.

»Sie werden die Angelegenheit nicht weiterverfolgen«, fuhr Sam fort.

»Welche Angelegenheit?«, fragte Kimberly und nippte an ihrem Wein.

»Ezras kriminellen Hausfriedensbruch.«

Das fehlte ihm gerade noch. Erst Dr. Neumann und jetzt sein Vater. Würde das denn gar kein Ende nehmen?

»Krimineller Hausfriedensbruch? Wo?« Kimberly schaute Ezra an. Wenn er es nicht besser wüsste, hätte ihr Gesichtsausdruck glatt als mütterliche Besorgnis durchgehen können. »Was hat das zu bedeuten?«

»Möchtest du darauf antworten, Ezra?«, fragte sein Vater.

»Wenn du mit der Botschaft gesprochen hast, dann weißt du ja bereits alles.«

»Ich will es von dir hören.«

Ezra nahm rasch einen weiteren Happen. Man konnte schließlich nie wissen, wie lange er noch an diesem Tisch sitzen würde. »Ich wusste, was ich tat.«

»Das weißt du doch immer«, gab Sam säuerlich zurück.

»Sie haben so viele Regeln und Vorschriften da drüben, wo man hingehen darf, was man machen darf, mit wem man reden darf. Wenn man sich an alle halten würde, käme man nie zu irgendwas.«

»Meinst du nicht, dass sie diese Regeln vielleicht, nur vielleicht, aus ganz bestimmten Gründen haben? Dass die israelische Regierung eventuell mehr darüber weiß, wie man die Dinge handhabt, als du?«

»Sie wissen, wie man eine Regierung führt, und selbst darüber ließe sich streiten, aber sie haben nicht den blassesten Schimmer von dem, was ich tue.«

»Und was ist das, Ezra?«, mischte Kimberly sich ein. »Ich bin mir nie so ganz sicher.«

Ezra wandte sich ihr zu. Endlich einmal sagte sie tatsächlich die Wahrheit. Sie wusste es nicht, und selbst wenn er es ihr erklären würde, würde sie es nicht verstehen, in einer Million Jahren nicht. Trotzdem musste er etwas sagen. »Ich suche nach Antworten auf die wichtigen Fragen.«

»Was für Fragen?«

»Die wichtigsten. Warum sind wir hier? Steckt eine bestimmte Absicht dahinter? Gibt es einen Gott, und wenn ja, wie können wir herausfinden, was er von uns will?«

»Das sind in der Tat wichtige Fragen«, sagte Kimberly.

»Aber du wirst die Antworten nicht finden«, warf Sam ein, »indem du mitten in der Nacht in heiligen Stätten herumschleichst, deren Zutritt strengstens verboten ist. Das gesamte Land ist ein Pulverfass, und jemand wie du, der tut was er will und dem die Vorschriften egal sind, kann unbeabsichtigt die ganze Gegend in die Luft jagen. Du hast Glück gehabt, dass es nicht dazu gekommen ist.«

»Diese Gefahr hat niemals bestanden.«

»Das sehen die Israelis anders. Wenn ich nicht diverse Fäden gezogen und dich da rausgeholt hätte, würdest du jetzt in einer Gefängniszelle in Jerusalem schmoren.«

Ezra musste sich eingestehen, dass das vermutlich stimmte. Die Probleme, die er mit den Direktoren des Feldstein Instituts gehabt hatte, verblassten angesichts des Ärgers, den er wegen der Sache mit dem Felsendom bekommen hatte.

»Es interessiert dich vielleicht, zu erfahren«, fuhr Sam fort, »dass ich die Kampagne zur Wiederwahl des Bürgermeisters von Jerusalem durch eine beachtliche Spende unterstützt habe.«

»Vielleicht kannst du dafür ja da drüben einen Immobiliendeal schaukeln«, sagte Ezra und bereute seine Worte, noch ehe die Faust seines Vaters die Tischplatte traf. Eine brennende Kerze fiel aus dem Kerzenständer.

»Meinst du etwa, das alles sei ein Witz?«, schrie Sam, das Gesicht beinahe genauso rot wie sein Smoking.

Kimberly griff nach der brennenden Kerze, die über die Tischdecke rollte.

»Glaubst du, ich werde immer da sein, um den Schlamassel, den du angerichtet hast, in Ordnung zu bringen? Um dir aus der Patsche zu helfen und alles wieder geradezubiegen? Was zum Teufel ist bloß mit dir los?«

Ezra wischte sich den Mund ab, faltete seine Serviette zusammen und legte sie auf den Tisch.

»Antworte mir!«

»Ich nahm an, es handle sich um eine rhetorische Frage«, erwiderte Ezra.

Sein Vater sah aus, als würde ihn gleich der Schlag treffen.

»Sam, denk an dein Herz! Beruhige dich«, sagte Kimberly.

»Wieso machst du dir eigentlich Sorgen?«, sagte Ezra zu ihr. »Du hast doch schon darauf gewartet, dass meine Mutter stirbt. Jetzt ist nur noch einer übrig.«

»Du lausiger Hurens…«, schrie Sam und sprang auf, aber Ezra war schneller. Er war bereits aus dem Zimmer heraus und den Flur hinunter, bevor sein Vater den Ärmel von der Stuhllehne, in der er sich verheddert hatte, befreit hatte. Er hörte Kimberly, die ihn mit den Worten »Lass ihn laufen« und »Mach es nicht noch schlimmer, als es ist« zu beruhigen versuchte. Zum vielleicht ersten Mal in seinem Leben war er tatsächlich dankbar für Kimberlys Anwesenheit, und das ausgerechnet, nachdem er sie beleidigt hatte.

In seinem Zimmer angekommen, verriegelte er die Tür hinter sich, wartete schwer atmend und lauschte, ob er verfolgt wurde. Wie alt bin ich eigentlich?, dachte er. Dreißig Jahre, und er benahm sich wie ein Schulkind, das aus Angst vor einer Tracht Prügel davonrannte. Er presste ein Ohr an die Tür, doch die Wohnung war so riesig und das Esszimmer so weit entfernt, dass er keinen Ton hörte. Was war gerade geschehen? Was hatte er gerade gesagt? Er konnte es selbst kaum glauben. Bisher war er so vorsichtig gewesen, auf sein Benehmen zu achten und sich mit niemandem anzulegen. Und jetzt hatte er innerhalb weniger Minuten alles vermasselt. Nicht, dass er sich sonderlich wegen seiner Beziehung zu Kimberly sorgte; die war ohnehin nie besonders gut gewesen. Und das Verhältnis zu seinem Vater war im Laufe der Jahre immer schlechter geworden. Doch was ihm wichtig war, war ein sicherer Hafen, ein Ort, an dem er unbehelligt und ungehindert seiner Arbeit nachgehen konnte. Bis vor einer Minute hatte er diesen Ort gehabt. Hatte er all das tatsächlich durch ein paar unbedachte aufrührerische Worte zum Fenster hinausgeschmissen?

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