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Widerstrebend betrat er den Hof. Der kalte Wind auf seinem Gesicht kam ihm vor wie Schmirgelpapier, als er sich dem Felsblock näherte. Währenddessen hatte er das eindeutige Gefühl, nicht allein zu sein. Noch jemand schien sich in dem leeren Hof aufzuhalten, und sein Blick wanderte zu den düsteren Kolonnaden auf beiden Seiten.

»Augusto?«, rief er laut. »Sind Sie hier?«

Aber niemand antwortete.

Das Seil schlug so hart gegen das Pflaster, dass der Stein blaue Funken schlug. Russo griff danach, aber der Wind riss ihm das Seil wieder aus der Hand. Er musste aufpassen. Er wartete ein paar Sekunden, bückte sich, packte es erneut und riss es mit aller Kraft an sich. Er fühlte sich an einen Schlangenbeschwörer erinnert, den er einmal gesehen hatte und der seine zischende Kobra an der Kehle gepackt hatte.

»Rompi … la pietra.« Brich den Stein auf.

Wie angewurzelt stand er da, immer noch vorgebeugt, das Seil in der Hand. Sein Kopf war nur wenige Zentimeter vom Fossil entfernt, und er hätte schwören können, dass die Worte aus dem Inneren des Steins gekommen waren.

Aber das war unmöglich.

Er klinkte den Metallkarabiner des Seils in einen Haken am Boden ein, dann trat er mit dem Fuß kräftig dagegen, um sicherzustellen, dass er fest verankert war.

Regen hatte eingesetzt, prasselte auf die Plastikplane und wurde an den Seiten von Windböen daruntergeweht, die sich im Innenhof verfangen hatten. Der Felsen wurde nass.

Russo wollte gerade gehen, als etwas ihn innehalten und sich umdrehen ließ.

Er beugte seinen Kopf dichter an die Oberfläche des Felsens, wie ein Arzt, der den Herzschlag des Patienten abhörte.

»Brich den Stein auf.«

Instinktiv zuckte sein Kopf zurück, sein Herz pochte. Dieses Mal war die Stimme nicht zu überhören gewesen. Im dämmrigen Licht des Hofes konnte er die knochigen Klauen erkennen. Sie waren nicht länger mit dem Felsen verschmolzen, sondern krümmten sich. Und während er voller Entsetzen zusah, begann der Scheitel des runden, nassen und glatten Kopfes von Irgendetwas sich ebenfalls herauszudrücken, als würde das Wesen geboren werden. Russo versuchte, zurückzuweichen, aber es war zu spät. Die Kreatur hatte seinen Ärmel mit ihren Klauen gepackt und zog ihn auf den glänzenden Felsen zu. Hin zu dem Kopf, der jetzt aus dem Stein ausbrach und ihm seine steinernen Augen zuwandte. Russo stöhnte vor Entsetzen auf und hörte ein Klingeln, wie aus meilenweiter Entfernung.

Die roten Samtvorhänge bauschten sich im Wind.

Es klingelte erneut.

Regen prasselte gegen die Fensterflügel.

Er starrte vor sich hin, die Augen weit aufgerissen, als ein greller Blitz den Monte Palatino erhellte.

Das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte zum dritten Mal.

Er war eingeschlafen. Seine Hand tastete nach dem Hörer. »Pronto

»Professor Russo?«

Noch immer meinte er diese eindringliche Grabesstimme aus dem Inneren des Steines zu hören.

»Joe? Bist du das?« Es war Carter. »Kannst du mich hören?«

»Ja, Bones, ich kann dich hören.«

»Na ja, etwas mehr Begeisterung könntest du schon an den Tag legen.«

Russo schüttelte den Traum ab und setzte sich in seinem knarrenden Stuhl auf.

»Besonders, nachdem ich die halbe Nacht mit deinen Laborberichten und Fotos zugebracht habe.«

»Du hast es dir also angesehen?«, sagte Russo. Er versuchte, sich eine neue Zigarette anzuzünden, aber seine Hände zitterten zu stark.

»Ja. Und es sieht so aus, als hättest du tatsächlich einen erstaunlichen Fund zwischen die Finger bekommen.«

»Das denke ich auch.«

»Aber es gibt da Einiges, das ich nicht verstehe. Erstens, es sieht so aus, als hättest du alles genau nach Vorschrift gemacht, alle Tests, am Fossil, am Felsen selbst …«

»Das haben wir auch.«

»… aber keines deiner Ergebnisse ergibt irgendeinen Sinn.«

In gewisser Weise war Russo erleichtert, dass jemand anders das genauso sah.

»Und ich brauche dir ja nicht zu sagen«, fuhr Carter fort, »dass es im Inneren der Probe jede Menge eingeschlossener Gase geben kann. Du wirst einen guten Mineralogen brauchen, der dir hilft herauszufinden, wie du das Fossil aus dem Fels herausbekommst.«

Brich den Stein auf.

»In deinem Brief hast du geschrieben, dass ihr nicht die Ausrüstung habt, um ein beschleunigtes Massenspektrogramm zu machen?«

»Nein, das können wir nicht.« Das war genau die Eröffnung, auf die Russo gehofft hatte. »Aber an der New York University könnt ihr das doch machen, oder?«

»Ja, klar.«

»Und Magnetresonanztomographie in einer offenen Umgebung? Könnt ihr das auch?«

»Das ließe sich einrichten.«

»Und was ist mit Lasern? Auf Argon-Basis?«

Carter schwieg einen Moment. »Den könnten wir uns ausleihen. Warum?«

Russo zögerte, dann wagte er den Sprung ins kalte Wasser. »Weil ich dich unter diesen Umständen besuchen werde, mein Freund.«

»Was meinst du damit? Ohne das Fossil, hier in New York …«

»Ich komme mit dem Fossil. So, wie es ist, im Stein eingeschlossen. Und wir werden einen Weg finden, es zu befreien.«

»Und das werden sie dir erlauben?« In Carters Stimme lag Überraschung und eine Spur Erregung. »Bei einer Entdeckung von dieser Bedeutung?«

»Ich habe erklärt, dass du der einzige Mensch auf der Welt bist, der diese Arbeit übernehmen und uns erklären kann, was wir da gefunden haben.«

Am anderen Ende der Leitung herrschte verblüfftes Schweigen, und Russo konnte sich nur vorstellen, was für Gedanken jetzt durch Carters Kopf wirbelten. Schließlich hörte er: »Joe, das ist unglaublich.«

Russo lachte leise. »Was willst du damit sagen – wie in alten Zeiten?«

»So ziemlich«, erwiderte Carter.

In der nächsten halben Stunde klärten sie die logistischen Fragen, besprachen den Zeitplan und die notwendige Laborausstattung. Als Russo den Hörer wieder auf die Gabel legte, war es draußen vollkommen dunkel, und der Sturm hatte sich in einen heftigen Platzregen verwandelt.

Aber er hatte erreicht, was er wollte.

Jetzt wollte er nur noch nach Hause, duschen und etwas essen.

Er nahm seinen alten Regenmantel vom Haken auf der Rückseite der Tür, schloss ab und stieg die Treppe hinunter. Merkwürdig, wie stark das Gefühl war, er sei erst vor Kurzem hier entlanggegangen. Aber das war ein Traum gewesen … ein Albtraum. Daran sollte er sich mittlerweile gewöhnt haben.

Im Vestibül blieb er stehen, um den Kragen hochzuschlagen und seinen Regenschirm aus dem Halter neben der Tür zu nehmen, den einzigen, der noch übrig war. Draußen auf der Via del Corso hörte er den Regen gurgelnd in den Gullis verschwinden. In der Pförtnerloge brannte noch Licht, und einen Moment später tauchte Augusto auf, der einen großen Mülleimer zum großen Container in der Halle trug.

»Ach, hallo«, sagte Russo zu dem alten Mann. »Haben Sie zufällig vorhin so ein hämmerndes Geräusch gehört, aus dem Innenhof?«

»Ja, Professor. Eines der Seile hatte sich gelöst. Ich habe es wieder am Boden befestigt.«

Wie konnte sein Traum so zutreffend sein? »Gut. Danke schön. Falls so etwas noch einmal vorkommt …«

»Nein«, erwiderte Augusto und schüttelte den Kopf. »Ich werde da nicht noch mal rausgehen.«

»Aber Sie waren doch bereits draußen.«

»Nein«, sagte er, kippte den Mülleimer aus und wandte den Blick ab. »Ich gehe da nicht noch mal raus.« Er biss die Zähne zusammen und ging zurück in sein Kabuff.

Das war vollkommen untypisch für Augusto, der normalerweise äußerst respektvoll und höflich war, doch nachdem Russo darüber nachgedacht hatte, beschloss er, dass er ihn nicht weiter mit Fragen bedrängen würde. Er öffnete die Tür zur Dunkelheit und der schmalen Gasse draußen und klappte seinen Regenschirm auf. Nein, es war besser, es einfach auf sich beruhen zu lassen. Der Wind zerrte an dem Regenschirm und riss ihn Russo fast aus der Hand. Außerdem, dachte er, wollte er vielleicht gar nicht hören, was Augusto ihm zu sagen hatte.

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