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Zur Rezeption Fremder Kulturen in der russischen Moderne am Beispiel Armeniens
BRJUSOV, BELYI, MANDEL’ŠTAM
Konstantin M. Azadovskij gehört zu den Pionieren der Wiederentdeckung und Erschließung der Literatur des «Silbernen Zeitalters». Ihm gebührt das Verdienst, die russische Moderne nicht nur als nationales Kulturgut, sondern als Bestandteil der europäischen Moderne in ihren intemationalen Beziehungen und Verflechtungen in den Blick genommen zu haben[246]. Zu diesem gesamteuropaischen Horizont gehört auch die Tatsache, dass bei aller Unterschiedlichkeit der poetischen Konzepte sowohl die Symbolisten als auch die Akmeisten ein kulturelles Programm vertraten, das die eigene Position nicht durch Ausgrenzung des Fremden bestimmte, sondern die, im Gegenteil, in bewusster Aneignung fremder Kulturen und in der Auseinandersetzung mit ihnen, ihren eigenen Platz in der Weltkultur suchten. Die Symbolisten proklamierten die Kulturals den Weg zur allumfassenden «Synthese» (Belyj, Ivanov), die Akmeisten verteidigten Kultur als einen universellen Wert (Achmatova) und sprachen in Zeiten der Barbarei von der «Sehnsucht nach Weltkultur» (Mandel’štam).
In der russischen Literatur spielte traditionell auch die Beschäftigung mit dem eigenen Fremden, dem Kaukasus, der Krim und Sibirien eine wichtige Rolle. Die eroberten Gebiete wurden zu Objekten ästhetischer Aneignung, ohne dass die Kolonialismuspolitik des Zarenreiches prin-zipiell in Frage gestellt worden wäre (zu den Ausnahmen gehört der spate Lev Tolstoj). Die gelegentlichen Hinweise bei Puškin oder Marlinskij, dass Georgien und Armenien uralte christliche Zivilisationen seien, ändern nichts am kolonialistischen Gesamttenor der Behandlung des russischen Ostens in der klassischen russischen Literatur[247]. Zu untersuchen wäre nun, inwieweit die Autoren der Moderne neue Facetten in die literarische Eroberung des russischen Orients einbringen. Zu fragen wäre auch, was mit ihren Syntheseansätzen in der sowjetischen Ära geschieht, die ja eine neue Phase der Kolonialisierung einleitet. Hier erõffnet sich ein weites Forschungsfeld, zu dem an dieser Stelle nur kurze Überlegungen angestellt werden können.
Am Beispiel der Armenien-Texte von Brjusov, Belyj und Mandel’štam soil gezeigt werden, dass diese Autoren ihr im «Silbemen Zeitalter» ausgebildetes Kulturverständnis in die sowjetische Ära hinüber zu retten versuchen, was den Dissens mit der offiziellen Kulturpolitik vorprogrammiert.
Valerij Brjusovs Anthologie:
«Poëzija Armenii. Narodnaja — srednevekovaja — novaja v perevode russkich poétov»
Brjusovs Anthologie entstand auf Bitten des in Moskau ansässigen Armenischen Komitees nach dem Genozid der Armenier durch das Osmanische Reich im Jahr 1915.
Brjusov selbst übemahm den Löwenanteil der Übersetzungen, konnte aber auch andere symbolistische Dichterkollegen, z. B. A. Blok, V. Ivanov, F. Sologub, K. Bal’mont, zur Mitarbeit gewinnen. Er besuchte Armenien 1916 und wurde von den dortigen Dichtem und Künstlern begeistert empfangen. Bis zu seinem Tode ließ ihn die Beschäftigung mit Armenien nicht mehr los. Mehrere Gedichte sind Armenien gewidmet, eine historische Chronik «Letopis’ istoričeskich sudeb armjanskogo naroda» blieb unvollendet[248].
Brjusov betont im Vorwort der Anthologie die lange Verbundenheit des Schicksals Armeniens mit dem Russlands, hebt aber zugleich dessen kulturelle Eigenleistung hervor, die er besonders in der Literatur verkörpert sieht, «та исключительно богатая литература, которая составляет драгоценный вклад Армении в общую сокровищницу человечества»[249].
In dem einleitenden umfangreichen Aufsatz mit dem Titel «Poëzija Armenii i ee edinstvo na protjaženie vekov (Istoriko-literaturnyj očerk)» entfaltet er ein kompaktes Bild der Geschichte der armenischen Literatur in ihren soziokulturellen Kontexten. Beschrieben werden die vielfältigen und wechselvollen kulturellen Einflüsse, die die armenische Kultur geprägt und die zur Einzigartigkeit ihrer Poesie geführt haben. Die Ausgangsthese, die das Konzept der gesamten Auswahl bestimmt, lautet:
Две силы, два противоположных начала, скрещиваясь, переплетаясь и сливаясь в нечто целое, единое, направляли жизнь Армении и создавали характер её народа на протяжении тысячелетий: начало Запада и начало Востока, дух Европы и дух Азии. Поставленная на рубеже двух миров, постоянно являвшаяся ареной для столкновения народов, вовлекаемая ходом событий в величайшие исторические перевороты, Армения самой судьбой была предназначена служить примирительницей двух различных культур: той, на основе которой вырос весь христианский Запад, и той, которая в наши дни представлена мусульманским Востоком. «Армения — авангард Европы в Азии», эта, давно предложенная, формула правильно определяет положение армянского народа в нашем мире.
Daraus leite sich die kulturelle Mission Armeniens ab:
Историческая миссия армянского народа, подсказанная всем ходом его развития, — искать и обрести синтез Востока и Запада. И это стремление всего полнее выразилось в художественном творчестве Армении, в её литературе, в её поэзии[250].
Brjusov hält die Bekanntschaft mit der armenischen Poesie für jeden gebildeten Menschen für unabdingbar. Er reiht sie ein in das Pantheon der Weltkultur:
В этом пантеоне мирно стоят рядом творения гения французского и гения немецкого; поэмы индусских поэтов или японские танки со стихами классиков Эллады и Рима; песни первобытных скандинавов, грозная Едда, песнь о Нибелунгах с утончёнными строфами Китса, с загадочными балладами Едгара По[251]…
Brjusov blieb in Armenien auch während der sowjetischen Ära eine hoch geschätzte und verehrte Persönlichkeit, seine Armenien-Anthologie erfuhr mehrere Publikationen[252]. Dennoch wird sein Ansatz, die Wirkungskraft der armenischen Poesie aus dem Zusammenspiel der vielfältigsten kulturellen Einflüsse zu erklären, von mehreren Kommentatoren der sowjetischen Publikationen seiner Anthologie getadelt, da sie damit ihres eigenständigen Charakters beraubt würde[253]. In dem Syntheseansatz Bijusovs wird (zweifellos zu Recht!) ein Überbleibsel seiner symbolistischen Vergangenheit vermutet.
Andrej Belyj: «Armenija»
Andrej Belyj kam erst nach der Revolution mit Armenien in Berührung.
Er reiste mit seiner zweiten Frau K. N. Bugaeva drei Mai in den Kaukasus. Die erste Reise führte ihn von April bis Juli 1927 nach Batumi und Tbilisi, eine zweite im Mai bis August 1928 emeut nach Georgien, von wo aus er Ende Mai eine einwöchentliche Stippvisite nach Armenien untemahm. Im Frühjahr und Sommer 1929 weilte er nochmals in Armenien[254].
Die Reisen in den Kaukasus boten den Ausbruch aus der Isolation, in die Belyj nach seiner Rückkehr aus Deutschland geraten war. Die Begegnung mit der sozialen und literarischen Gegenwart gestaltete sich «mild», derm in Georgien war der ideologische Druck nicht so stark spürbar wie in den sowjetischen Metropolen. Belyj fand begeisterte Aufnahme bei den georgischen Künstlem, die sich seines früheren Ruhmes erinnerten und ihn als Klassiker feierten, ihn zu Vorträgen einluden und ihm damit jenen Respekt erwiesen, den er in Moskau und Petersburg schmerzlich vermisste[255].