Die Eindrücke der ersten Reise verarbeitete er in einem Tagebuch, das er 1928 unter dem Titel «Veter s Kavkaza» publizierte. Mit Belyjs zweiter Kaukasusreise war dann schon ein kulturpolitischer Auftrag verbunden, nämlich die Umgestaltung des nunmehr sowjetischen Armeniens zu dokumentieren. Der Bericht folgte einem Programm, das drei Punkte organisch verbinden sollte:
Мне интересны: природа, строительство новой Армении, даже развалины многостолетние[256].
Der Text besteht aus acht Kapiteln, die im wesentlichen die Reiseroute wiedergeben[257]: Mit den Ortsbezeichnungen sind Akzentsetzungen verbunden: Ečmiadzin, die alte Hauptstadt, steht für Kultur, Ajger-Lič (etwa 15 km von Erevan entfemt) für die neue Zeit, das Wasserkraftwerk.
Anders als das Georgienbuch, das ungeordnet Impressionen zur Natur, den Sehenswürdigkeiten und Begegnungen mit Künstlern und Intellektueilen russischer und georgischer Provinienz in Tagebuchform einfängt, herrscht im Armenienbericht verdichtete Symbolik. Stärker als die Reise nach Georgien wurde, wie Carmen Sippl treffend feststellt, der Aufenthalt in Armenien vom Autor explizit als Begegnung mit dem Fremden, als «Sich Entfemen von Europa, als Annäherung an Asien» dargestellt[258]. Doch geht es dabei nicht um die Abgrenzung vom Eigenen, Zivilisatorischen, sondern eher im Gegenteil, wird, ähnlich wie bei Brjusov, dessen Armenien-Texte er kannte, «die Herkunft Armeniens aus den wechselvollen alten Kulturen, der persischen, somerischen, assyrischen, babylonischen, die Ankunft griechischer Krieger, als Urszene der Menschheitskultur, als Urbild steingewordener Geschichte, augenfÄllig gemacht»[259].
Belyj formt sein Armenien-Bild stets aus dem Zusammenspiel von Natur, Kultur und Physiognomie der Bewohner:
Земля — с древним запахом: в чобры и мяты влиты испарения староармянской и староперсидской культур (…); здесь жив Вавилон: поглядите на бритые профили, губы, носы ериванцев, представьте к ним длинные клины бород завитых, — вы узнаете фрески (…)… профиль армянский — вполне вавилонский (…) Здесь «аирик» (или батюшка) более напоминает жреца вавилонского, вышедшего из Ваалова капища, — не христианского. (…) Впаяны древности в почву; и камни природные — передряхрели скульптуру; и статуи, треснувши, в землю уйдя, поднимают кусты; не поймёшь, что ты видишь: природу ль, культуру ль?[260]
Großen Raum nehmen die Erinnerungen an die Verheerungen ein, die Armenien als Spielball zwischen den Großmächten Persien und Türkei erlitten hat; der russischen Eroberung Erivans[261] durch General Paskevič hingegen wird nur knapp die Reverenz erwiesen. Die Verbindung zu Russland wird nicht auf der Ebene der Kultur, sondern der militärischen Eroberung hergestellt[262].
Nicht die Gemeinsamkeiten zwischen Russland und Armenien, die Brjusov dem Russland angegliederten nordostlichen Zweig der armenischen Kultur konzediert, bilden also den Fokusvon Belyjs Wahrnehmung, sondern die Erinnerung an die kulturelle Vergangenheit Armeniens. In Eèmiadzin mit seiner Kathedrale, deren Ausmaße ihn an die Kathedrale in Cambridge erinnem und in dem Museum, wo ihm dergelehrte Bibliothekar Senekerim Ter-Akopjan die uralten kostbar ausgeführten Handschriften zeigt, wird ihm das Zusammenspiel heidnischer, judäischer und christlicher Elemente für die Formierung derarmenischen Kultur deutlich vor Augen geführt[263]. Neben Ter-Akopojan wird aberauch der Ingenieur Sirmazanjan genannt, der Erbauer des Staudamms in Ajger-Lič[264], des Weiteren ein Kapitän auf dem Sevan-See sowie der Maler Saijan, Belyjs Begleiter[265]. Belyj entledigt sich hier seines sozialen Auftrags.
Sein Synthesestreben konzentriert sich weniger wie bei Brjusov auf die Vermittlung der armenischen Kultur zwischen Asien und Europa, als vielmehr auf die Verschmelzung der Elemente Natur und Kultur, die er in der Landschaft entdeckt. In der Landschaft Armeniens ofifenbaren sich für Belyj die Schicksale des Landes. Das wird in der Beschreibung des Ararats, des wichtigsten Natur— und Kulturzeichens der Armenier sichtbar:
To — Арарат.
Смотришь, — кажется: вылезло что-то огромное, все переросшее — до ненормальности вдруг отчеканясь главою своей; <…> и растет впечатление, что голова, отделившись от тела, является белой планетой, которой судьба — обвалиться, иль в небо уйти навсегда, унося времена патриархов: не бред ли: в двадцатом столетии увидеть подножье ковчега, летавшего где-то здесь, в уровнях воздуха; и дико вспомнить легенду армян, будто рай насажден был здесь именно <…>[266]
Diese Urszene der Menschheitsgeschichte erscheint ihm symboltrachtig auch für die Zukunft:
Будет то время, когда станет братским объятьем сплетение рук араратских, откуда — восход в поднебесные выси, куда ушел конус, коли он… не рухнет до этого; он — разрушается; землетрясение сороковых годов прошлого века свалило под глетчером бок великана на церковь Иакова и на поселок, — в места, куда Ной, опустившися, стал разводить виноградники послепотопные[267].
Belyjs Armenienbericht wurde 1928 im Heft 8 der Zeitschrift «Krasnaja Nov’» veröffentlicht, dann erst wieder vollständig im Jahre 1985 in Erevan[268].
Osip Mandel’štam: «Putešestvie v Armeniju»
Mandel’štams Beschäftigung mit Armenien ist uns vor allem in drei Textsorten überliefert: im Gedichtzyklus «Armenija» (1930), dem Notizbuch zur Armenien-Reise «Zapisnye knižki 1931–1932» sowie dem eigentlichen Reisetext «Putešestvie v Armeniju» (1931/1933)[269]. Mandel’štam besuchte Armenien vom Mai bis November 1930. Seit 1928, als eine Verleumdungs — und Hetzkampagne gegen den Dichter entfesselt worden war, träumte er von dieser Reise, die ihm schließlich durch Fürsprache Nikolaj Bucharins genehmigt wurde.
Ähnlich wie bei Belyj ist die Reise als Flucht aus der bedrückenden Moskauer Atmosphäre zu verstehen, was sich in den Armenien-Texten widerspiegeln und deren Erzählperspektive bestimmen wird.
Aber Armenien war — und darin Belyjs Georgien-lmaginationen verwandt — nicht beliebiger Fluchtort, sondern kultureller Sehnsuchts-ort, der dem symbolistisch-akmeistischen Synthesedenken reichliche Nahrung bot. Beide Dichter verbanden mit ihrer Reise in den Kaukasus zugleich die Suche nach den eigenen poetischen Wurzeln: Während Belyj in Georgien die Kolchis, die mythologische Landschaft seiner symbolistischen Argonauten-Phase zu entdecken glaubte, fand Mandel’štam — in dessen Dichtung ebenfalls georgische Motive zu finden sind[270] — in Armenien zu den Wurzeln seiner jüdischen Kultur, aber eben in ihrer Verquickung mit der klassischen Antike. Der Mandel’štam Übersetzer und — Spezialist Ralph Dutli weist darauf hin, dass Mandel’štam bereits in seiner «Četvertaja proza» von 1929/1930 die armenische Erde als die jüngere Schwester der judäischen bezeichnete[271]. Auch der nach der Reise entstandene Gedichtzyklus bezeugt, dass Armenien seine poetische Phantasie beschäftigt hat.