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Noch im vulgarisierten Zitat ist die Perspektive klar. Keinerlei Orakel, keinerlei hilflose Versuche ausgetüftelter Zukunftsdeutung können es verdecken: Am Schluss steht der Tod, dein eigener Tod. Staub, Tod, Stille — darauf geht die Aussicht in diesem Gedicht. Ein Unikum im Wferk Brodskys: Es tragt ein Epigraph von einem deutschen Dichter, Peter Huchel (1903–1981), aus dem Gedicht «Die Engel» (im Band «Gezählte Zeit», 1972)[243].

* * *

Die Praxis der Zukunftsdeutung ist so universal wie die allgemein-menschliche Angst vor dem Tod, vor dem Sterbenmüssen. In Brodskys langem Gedicht «Gesprach mit dem Himmelsbewohner» («Разговор с небожителем») von 1970, wo der Sprechende sich nicht scheut, sich zum modemen Hiob zu stilisieren, heißt es in der 19. Strophe klar:

                           Ну что же, рой!
           Рой глубже и, как вырванное с мясом,
          шей сердцу страх пред грустною порой,
                      пред смертным часом.
                              Na also, grab
schon! grab tiefer! Nur samt dem Fleisch herausgerissen
            näh ins Herz die Angst als deine Naht,
                die Angst vorm Sterbenmüssen.[244]

Und gleich in der folgenden Strophe, ganz ähnlich wie in dem zwei Jahrzehnte später entstandenen Gedicht «Anmerkungen eines Farns»: «Die Perspektive des Sterbens / steht immer offen dem Auge» («раз перспектива умереть / доступна глазу»).

Das Besondere des Brodsky-Gedichtes «Anmerkungen eines Farns» liegt aber darin, dass es nicht nur die Verfahren der Zukunftsdeutung parodiert, sondern auch Strategien entwickelt und Empfehlungen gibt, wie dieser vemichtenden Aussicht begegnet werden könnte. Der postmoderne Prophet sagt nicht nur die Zukunft voraus und formuliert die Perspektive des Todcs, sondern gibt Anleitungen, Ermahnungen. Sie sind das Wesentliche in diesem Gedicht. Und nicht die Zukunft. Denn der Zukunft gegenüber war Brodsky zutiefst misstrauisch gestimmt. Das Gedicht «Vertumnus» («Вертумн») von Dezember 1990 spricht eine deutliche Sprache:

Пахнет оледененьем. (…)
В просторечии — будущим. Ибо оледененье
есть категория будущего, которое есть пора,
когда больше уже никого не любишь,
даже себя. (…)
В определенном смысле,
в будущем нет никого; в определенном смысле,
в будущем нам никто не дорог. (…)
Будущее всегда
настает, когда кто-нибудь умирает.
Особенно человек. Тем более — если бог.
Es riecht nach Eiszeit. (…)
Einfach ausgedruckt — nach Zukunft. Denn Vereisung
ist eine Kategorie der Zukunft, einer Zeit,
wo du niemanden mehr lieben wirst,
auch dich selber nicht. (…)
In einem gewissen Sinne
gibt es in der Zukunft niemanden; sozusagen
ist uns in der Zukunft niemand lieb und teuer. (…)
Die Zukunft bricht
immer an, wenn jemand stirbt.
Besonders ein Mensch. Erst recht — ein Gott.[245]

Überhaupt die Zukunft — der illusionslos-antiutopisch eingestellte Brodsky hielt nichts von ihr, stand ihr ablehnend gegenüber. Sie ist bei ihm ein Zeitraum der Kälte, der Vereisung, der Abwesenheit der Liebe. Schlechthin eine Ära des Todes.

* * *

Der Anfang der 4. Strophe formuliert einen Imperativ: «Deshalb besser: keine Angst!» («Поэтому лучше бесстрашие!»). Am Schluss der 7. Strophe wird das Schreiben als Mittel der Befreiung von der Angst beschworen; «Das Kratzen der Feder in der Stille hältst / du für den Versuch in Kleinschrift die Angst zu verlernen» («что скрип пера / в тишине по бумаге / — бесстрашье в миниатюре»). Furchtlosigkeit «in Miniatur», ob als «Kleinschrift» oder «im Kleinen» — es ist eine bescheidene Strategic der Angstbewältigung, die der Dichter hier empfiehlt.

Und noch eine für Brodsky typische Ermahnung versteckt sich ganz am Schluss des Gedichtes: Vermeide die Tautologie. «Und Furcht vor Tautologie ist Garantie für Wohlergehen» («И страх тавтологии — гарантия благополучья»), Brodsky war ein Dichter, der sich als eingefleischter Exilant jede Hoffnung auf Intaktheit und Heimkehr und Heil verbat. Simple Wiederkehr an den Ort des früheren Geschehens wäre Tautologie, eine Figur, die Brodsky immer wieder geißelte: als bloße Wiederholung im Klischee, öde Vermassung, sinnlose Vermehrung des ohnehin Vorhandenen.

Tautologie war für Brodsky eine Todsünde des Künstlers. Auch im Bereich des eigenen Lebens. Er weigerte sich selbst nach der Wende, als das Sowjetimperium untergegangen war, nach Russland zurückzukehren. Als Lebender nicht und erst recht nicht als Toter, um der Vereinnahmung durch ein quasi-staatliches Grab und dem russischen Stereotyp des zu Lebzeiten geschundenen, nach dem Tod verklärten Dichters zu entgehen. Also wollte er in seinem «irdischen Paradies» Venedig begraben sein, auf der Friedhofinsel San Michele; in jenem Venedig, das der Exilant «siebzehn Winter lang» aufsuchte, ohne dabei je an Wiederholung oder Tautologie zu denken. Denn in der Kunst war Tautologie und Klischee für ihn unmöglich, und Venedig für ihn — der Ort der Kunst schlechthin, nachzulesen in seinem grandiosen Venedig-Essay «Ufer der Verlorenen» (im englischen Original: «Watermark»).

Und ein anderer Imperativ leitet sich aus der Angst vor dem Sterbenmüssen ab, jener Imperativ des Staubes: «Vergiss mich nicht» («не забывай меня»), in der 6. Strophe. Es ist der Imperativ, den Huchels Gedicht «Die Engel» vorgegeben hatte mit dem biblisch hohen Register in «Gedenke meiner» und den Brodsky, der Pathosbrecher, herabdämpft zu einem schlichten: «Vergiss mich nicht!» Die Bewahrung des Gedächtnisses ist auch ein Motor des Schreibens und Schreibenmüssens — angesichts des Sterbenmüssens.

Brodsky ist der Stoiker der Postmoderne. Im Jahr 1994, ein gutes Jahr vor seinem Tod, widmete er einen seiner letzten Essays Marc Aurel (121–180), dem römischen Kaiser und Autor der Selbstbetrachtungen. «Hommage an Marc Aurel» ist eine so einfühlsame wie energische Würdigung der stoischen Philosophic von Zenon bis Epiktet und Marc Aurel, deren gemeinsames Projekt die Überwindung der Angst vor dem Tod war. «Bedenke, dass der Hauptquell alien Übels für den Menschen wie auch von Niedertracht und Feigheit nicht der Tod, sondern die Furcht vor dem Tod ist» (Epiktet). Das Ziel der Stoiker war die Gemütsruhe (griechisch: Ataraxia, lateinisch: Aequanimitas), Gleichmut und Gelassenheit angesichts des Schrecklichen. Brodskys Essay ist eine Vemeigung vor den stoischen Philosophen und mutet fast wie ein Bewerbungsschreiben an, selber in ihre Reihe aufgenommen zu werden. Selbst der Selbstmord, den die Stoiker als Mittel der Freiheit in auswegloser Lage bejahten, findet sich in Brodskys Farn-Philosophic wieder, im «Signal dass es Zeit wird für einen selbst, / die Lampe zu löschen» («указанье, что самому пора / выключить лампу»).

Die allgegenwärtige Perspektive des Sterbens im Werk des von seiner Herzkrankheit dauemd bedrohten, am 28. Januar 1996 dem Herztod erlegenen Joseph Brodsky schließt die Gegenmittel und Strategien der Überwindung nicht aus, den Imperativ des Schreibens und Gedenkens. Kein anderes Gedicht resümiert derart prägnant Brodskys Lebensmaximen wie «Anmerkungen eines Farns». Prinzipien, die er hier, nach der parodistischen Reihung diverser Verfahren der Zukunftsdeutung, in eine Anzahl Ermahnungen kleidet: Vermeidung der Tautologie, Furchtlosigkeit angesichts des Todes, Bewahrung des Gedächtnisses in der Schrift, Gleichmut und Gelassenheit, Angstbewältigung dank der beharrlichen Schreibkunst, dank dem bescheidenen Geräusch des Schreibgeräts in der Stille. Es ist ein nicht etwa heilendes (eine solche Idee wäre Brodsky suspekt), aber zugleich erhebendes und ernüchterndes Geräusch. Es ist die klangliche Entsprechung einer Lebens— und Sterbenslehre «im Kleinen», in der Miniatur. Es ist die bescheidene Musik des Farns.

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243

Die Beziehung Brodskys zu Peter Huchels Werk ist Gegenstand des Aufsatzes von Helbig H. Fußnoten zu einem Farn nördlich von Delphi. Zu Joseph Brodskys Umgang mit zwei Versen von Peter Huchel // Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. Stuttgart. 47. Jahrgang, 2003. S. 376–404.

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244

Brief in die Qase. S. 53.

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245

Brief in die Qase. S. 215.

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