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Der Bauernaufstand des Geistes. — Wir Europäer befinden uns im Anblick einer ungeheuren Trümmerwelt, wo Einiges noch hoch ragt, wo Vieles morsch und unheimlich dasteht, das Meiste aber schon am Boden liegt, malerisch genug — wo gab es je schönere Ruinen? — und überwachsen mit grossein und kleinem Unkraute. Die Kirche ist diese Stadt des Untergangs: wir sehen die religiöse Gesellschaft des Christenthums bis in die untersten Fundamente erschüttert, — der Glaube an Gott ist umgestürzt, der Glaube an das christlich-asketische Ideal kämpft eben noch seinen letzten Kampf. Ein solches lang und gründlich gebautes Werk wie das Christenthum — es war der letzte Römerbau! — konnte freilich nicht mit Einem Male zerstört werden; alle Art Erdbeben hat da rütteln, alle Art Geist, die anbohrt, gräbt, nagt, feuchtet, hat da helfen müssen. Aber was das Wunderlichste ist: Die, welche sich am meisten darum bemüht haben, das Christenthum zu halten, zu erhalten, sind gerade seine besten Zerstörer geworden, — die Deutschen. Es scheint, die Deutschen verstehen das Wesen einer Kirche nicht. Sind sie dazu nicht geistig genug? nicht misstrauisch genug? Der Bau der Kirche ruht jedenfalls auf einer südländischen Freiheit und Freisinnigkeit des Geistes und ebenso auf einem südländischen Verdachte gegen Natur, Mensch und Geist, — er ruht auf einer ganz andren Kenntniss des Menschen, Erfahrung vom Menschen, als der Norden gehabt hat. Die Lutherische Reformation war in ihrer ganzen Breite die Entrüstung der Einfalt gegen etwas» Vielfältiges«, um vorsichtig zu reden, ein grobes biederes Missverständniss, an dem Viel zu verzeihen ist, — man begriff den Ausdruck einer siegreichen Kirche nicht und sah nur Corruption, man missverstand die vornehme Skepsis, jenen Luxus von Skepsis und Toleranz, welchen sich jede siegreiche selbstgewisse Macht gestattet… Man übersieht heute gut genug, wie Luther in allen kardinalen Fragen der Macht verhängnissvoll kurz, oberflächlich, unvorsichtig angelegt war, vor Allem als Mann aus dem Volke, dem alle Erbschaft einer herrschenden Kaste, aller Instinkt für Macht abgieng: so dass sein Werk, sein Wille zur Wiederherstellung jenes Römer-Werks, ohne dass er es wollte und wusste, nur der Anfang eines Zerstörungswerks wurde. Er dröselte auf, er riss zusammen, mit ehrlichem Ingrimme, wo die alte Spinne am sorgsamsten und längsten gewoben hatte. Er lieferte die heiligen Bücher an Jedermann aus, — damit geriethen sie endlich in die Hände der Philologen, das heisst der Vernichter jeden Glaubens, der auf Büchern ruht. Er zerstörte den Begriff» Kirche«, indem er den Glauben an die Inspiration der Concilien wegwarf: denn nur unter der Voraussetzung, dass der inspirirende Geist, der die Kirche gegründet hat, in ihr noch lebe, noch baue, noch fortfahre, sein Haus zu bauen, behält der Begriff» Kirche «Kraft. Er gab dem Priester den Geschlechtsverkehr mit dem Weibe zurück: aber drei Viertel der Ehrfurcht, deren das Volk, vor Allem das Weib aus dem Volke fähig ist, ruht auf dem Glauben, dass ein Ausnahme-Mensch in diesem Punkte auch in andren Punkten eine Ausnahme sein wird, — hier gerade hat der Volksglaube an etwas Uebermenschliches im Menschen, an das Wunder, an den erlösenden Gott im Menschen, seinen feinsten und verfänglichsten Anwalt. Luther musste dem Priester, nachdem er ihm das Weib gegeben hatte, die Ohrenbeichte nehmen, das war psychologisch richtig: aber damit war im Grunde der christliche Priester selbst abgeschafft, dessen tiefste Nützlichkeit immer die gewesen ist, ein heiliges Ohr, ein verschwiegener Brunnen, ein Grab für Geheimnisse zu sein.»Jedermann sein eigner Priester«— hinter solchen Formeln und ihrer bäurischen Verschlagenheit versteckte sich bei Luther der abgründliche Hass auf den» höheren Menschen «und die Herrschaft des» höheren Menschen«, wie ihn die Kirche concipirt hatte: — er zerschlug ein Ideal, das er nicht zu erreichen wusste, während er die Entartung dieses Ideals zu bekämpfen und zu verabscheuen schien. Thatsächlich stiess er, der unmögliche Mönch, die Herrschaft der homines religiosi von sich; er machte also gerade Das selber innerhalb der kirchlichen Gesellschafts-Ordnung, was er in Hinsicht auf die bürgerliche Ordnung so unduldsam bekämpfte, — einen» Bauernaufstand«. — Was hinterdrein Alles aus seiner Reformation gewachsen ist, Gutes und Schlimmes, und heute ungefähr überrechnet werden kann, — wer wäre wohl naiv genug, Luthern um dieser Folgen willen einfach zu loben oder zu tadeln? Er ist an Allem unschuldig, er wusste nicht was er that. Die Verflachung des europäischen Geistes, namentlich im Norden, seine Vergutmüthigung, wenn man's lieber mit einem moralischen Worte bezeichnet hört, that mit der Lutherischen Reformation einen tüchtigen Schritt vorwärts, es ist kein Zweifel; und ebenso wuchs durch sie die Beweglichkeit und Unruhe des Geistes, sein Durst nach Unabhängigkeit, sein Glaube an ein Recht auf Freiheit, seine» Natürlichkeit«. Will man ihr in letzterer Hinsicht den Werth zugestehn, Das vorbereitet und begünstigt zu haben, was wir heute als» moderne Wissenschaft «verehren, so muss man freilich hinzufügen, dass sie auch an der Entartung des modernen Gelehrten mitschuldig ist, an seinem Mangel an Ehrfurcht, Scham und Tiefe, an der ganzen naiven Treuherzigkeit und Biedermännerei in Dingen der Erkenntniss, kurz an jenem Plebejismus des Geistes, der den letzten beiden Jahrhunderten eigenthümlich ist und von dem uns auch der bisherige Pessimismus noch keineswegs erlöst hat, — auch die,»modernen Ideen «gehören noch zu diesem Bauernaufstand des Nordens gegen den kälteren, zweideutigeren, misstrauischeren Geist des Südens, der sich in der christlichen Kirche sein grösstes Denkmal gebaut hat. Vergessen wir es zuletzt nicht, was eine Kirche ist, und zwar im Gegensatz zu jedem» Staate«: eine Kirche ist vor Allem ein Herrschafts-Gebilde, das den geistigeren Menschen den obersten Rang sichert und an die Macht der Geistigkeit soweit glaubt, um sich alle gröberen Gewaltmittel zu verbieten, — damit allein ist die Kirche unter allen Umständen eine vornehmere Institution als der Staat. —

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Die Rache am Geist und andere Hintergründe der Moral. — Die Moral — wo glaubt ihr wohl, dass sie ihre gefährlichsten und tückischsten Anwälte hat?… Da ist ein missrathener Mensch, der nicht genug Geist besitzt, um sich dessen freuen zu können, und gerade Bildung genug, um das zu wissen; gelangweilt, überdrüssig, ein Selbstverächter; durch etwas ererbtes Vermögen leider noch um den letzten Trost betrogen, den» Segen der Arbeit«, die Selbstvergessenheit im» Tagewerk«; ein Solcher, der sich seines Daseins im Grunde schämt — vielleicht herbergt er dazu ein paar kleine Laster — und andrerseits nicht umhin kann, durch Bücher, auf die er kein Recht hat, oder geistigere Gesellschaft als er verdauen kann, sich immer schlimmer zu verwöhnen und eitel-reizbar zu machen: ein solcher durch und durch vergifteter Mensch — denn Geist wird Gift, Bildung wird Gift, Besitz wird Gift, Einsamkeit wird Gift bei dergestalt Missrathenen — geräth schliesslich in einen habituellen Zustand der Rache, des Willens zur Rache… was glaubt ihr wohl, dass er nöthig, unbedingt nöthig hat, um sich bei sich selbst den Anschein von Ueberlegenheit über geistigere Menschen, um sich die Lust der vollzogenen Rache, wenigstens für seine Einbildung, zu schaffen? Immer die Moralität, darauf darf man wetten, immer die grossen Moral-Worte, immer das Bumbum von Gerechtigkeit, Weisheit, Heiligkeit, Tugend, immer den Stoicismus der Gebärde (- wie gut versteckt der Stoicismus was Einer nicht hat!..), immer den Mantel des klugen Schweigens, der Leutseligkeit, der Milde, und wie alle die Idealisten-Mäntel heissen, unter denen die unheilbaren Selbstverächter, auch die unheilbar Eiteln, herum gehn. Man verstehe mich nicht falsch: aus solchen geborenen Feinden des Geistes entsteht mitunter jenes seltene Stück Menschthum, das vom Volke unter dem Namen des Heiligen, des Weisen verehrt wird; aus solchen Menschen kommen jene Unthiere der Moral her, welche Lärm machen, Geschichte machen, — der heilige Augustin gehört zu ihnen. Die Furcht vor dem Geist, die Rache am Geist — oh wie oft wurden diese triebkräftigen Laster schon zur Wurzel von Tugenden! ja zur Tugend! — Und, unter uns gefragt, selbst jener Philosophen-Anspruch auf Weisheit, der hier und da einmal auf Erden gemacht worden ist, der tollste und unbescheidenste aller Ansprüche, — war er nicht immer bisher, in Indien, wie in Griechenland, vor Allem ein Versteck? Mitunter vielleicht im Gesichtspunkte der Erziehung, der so viele Lügen heiligt, als zarte Rücksicht auf Werdende, Wachsende, auf Jünger, welche oft durch den Glauben an die Person (durch einen Irrthum) gegen sich selbst vertheidigt werden müssen… In den häufigeren Fällen aber ein Versteck des Philosophen, hinter welches er sich aus Ermüdung, Alter, Erkaltung, Verhärtung rettet, als Gefühl vom nahen Ende, als Klugheit jenes Instinkts, den die Thiere vor dem Tode haben, — sie gehen bei Seite, werden still, wählen die Einsamkeit, verkriechen sich in Höhlen, werden weise… Wie? Weisheit ein Versteck des Philosophen vor — dem Geiste? —

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