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Der Ursprung unsres Begriffs» Erkenntniss«. — Ich nehme diese Erklärung von der Gasse; ich hörte jemanden aus dem Volke sagen» er hat mich erkannt«—: dabei fragte ich mich: was versteht eigentlich das Volk unter Erkenntniss? was will es, wenn es» Erkenntniss «will? Nichts weiter als dies: etwas Fremdes soll auf etwas Bekanntes zurückgeführt werden. Und wir Philosophen — haben wir unter Erkenntniss eigentlich mehr verstanden? Das Bekannte, das heisst: das woran wir gewöhnt sind, so dass wir uns nicht mehr darüber wundern, unser Alltag, irgend eine Regel, in der wir stecken, Alles und jedes, in dem wir uns zu Hause wissen: — wie? ist unser Bedürfniss nach Erkennen nicht eben dies Bedürfniss nach Bekanntem, der Wille, unter allem Fremden, Ungewöhnlichen, Fragwürdigen Etwas aufzudecken, das uns nicht mehr beunruhigt? Sollte es nicht der Instinkt der Furcht sein, der uns erkennen heisst? Sollte das Frohlocken des Erkennenden nicht eben das Frohlocken des wieder erlangten Sicherheitsgefühls sein?… Dieser Philosoph wähnte die Welt» erkannt«, als er sie auf die» Idee «zurückgeführt hatte: ach, war es nicht deshalb, weil ihm die» Idee «so bekannt, so gewohnt war? weil er sich so wenig mehr vor der» Idee «fürchtete? — Oh über diese Genügsamkeit der Erkennenden! man sehe sich doch ihre Principien und Welträthsel-Lösungen darauf an! Wenn sie Etwas an den Dingen, unter den Dingen, hinter den Dingen wiederfinden, das uns leider sehr bekannt ist, zum Beispiel unser Einmaleins oder unsre Logik oder unser Wollen und Begehren, wie glücklich sind sie sofort! Denn was bekannt ist, ist» erkannt«: darin stimmen sie überein. Auch die Vorsichtigsten unter ihnen meinen, zum Mindesten sei das Bekannte leicht ererkennbar als das Fremde; es sei zum Beispiel methodisch geboten, von der» inneren Welt«, von den» Thatsachen des Bewusstseins «auszugehen, weil sie die uns bekanntere Welt sei! Irrthum der Irrthümer! Das Bekannte ist das Gewohnte; und das Gewohnte ist am schwersten zu» erkennen«, das heisst als Problem zu sehen, das heisst als fremd, als fern, als» ausser uns «zu sehn… Die grosse Sicherheit der natürlichen Wissenschaften im Verhältniss zur Psychologie und Kritik der Bewusstseins-Elemente — unnatürlichen Wissenschaften, wie man beinahe sagen dürfte — ruht gerade darauf, dass sie das Fremde als Objekt nehmen: während es fast etwas Widerspruchsvolles und Widersinniges ist, das Nicht-Fremde überhaupt als Objekt nehmen zu wollen…

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Inwiefern es in Europa immer» künstlerischer «zugehn wird. — Die Lebens-Fürsorge zwingt auch heute noch — in unsrer Uebergangszeit, wo so Vieles aufhört zu zwingen — fast allen männlichen Europäern eine bestimmte Rolle auf, ihren sogenannten Beruf; Einigen bleibt dabei die Freiheit, eine anscheinende Freiheit, diese Rolle selbst zu wählen, den Meisten wird sie gewählt. Das Ergebniss ist seltsam genug: fast alle Europäer verwechseln sich in einem vorgerückteren Alter mit ihrer Rolle, sie selbst sind die Opfer ihres,»guten Spiels«, sie selbst haben vergessen, wie sehr Zufall, Laune, Willkür damals über sie verfügt haben, als sich ihr» Beruf «entschied — und wie viele andre Rollen sie vielleicht hätten spielen können: denn es ist nunmehr zu spät! Tiefer angesehn, ist aus der Rolle wirklich Charakter geworden, aus der Kunst Natur. Es gab Zeitalter, in denen man mit steifer Zuversichtlichkeit, ja mit Frömmigkeit an seine Vorherbestimmung für gerade dies Geschäft, gerade diesen Broderwerb glaubte und den Zufall darin, die Rolle, das Willkürliche schlechterdings nicht anerkennen wollte: Stände, Zünfte, erbliche Gewerbs-Vorrechte haben mit Hülfe dieses Glaubens es zu Stände gebracht, jene Ungeheuer von breiten Gesellschafts-Thürmen aufzurichten, welche das Mittelalter auszeichnen und denen jedenfalls Eins nachzurühmen bleibt: Dauerfähigkeit (- und Dauer ist auf Erden ein Werth ersten Ranges!). Aber es giebt umgekehrte Zeitalter, die eigentlich demokratischen, wo man diesen Glauben mehr und mehr verlernt und ein gewisser kecker Glaube und Gesichtspunkt des Gegentheils in den Vordergrund tritt, jener Athener-Glaube, der in der Epoche des Perikles zuerst bemerkt wird, jener Amerikaner-Glaube von heute, der immer mehr auch Europäer-Glaube werden will: wo der Einzelne überzeugt ist, ungefähr Alles zu können, ungefähr jeder Rolle gewachsen zu sein, wo jeder mit sich versucht, improvisirt, neu versucht, mit Lust versucht, wo alle Natur aufhört und Kunst wird… Die Griechen, erst in diesen Rollen-Glauben — einen Artisten-Glauben, wenn man will — eingetreten, machten, wie bekannt, Schritt für Schritt eine wunderliche und nicht in jedem Betracht nachahmenswerthe Verwandlung durch: sie wurden wirklich Schauspieler; als solche bezauberten sie, überwanden sie alle Welt und zuletzt selbst die» Weltüberwinderin«(denn der Graeculus histrio hat Rom besiegt, und nicht, wie die Unschuldigen zu sagen pflegen, die griechische Cultur…). Aber was ich fürchte, was man heute schon mit Händen greift, falls man Lust hätte, darnach zu greifen, wir modernen Menschen sind ganz schon auf dem gleichen Wege; und jedes Mal, wenn der Mensch anfängt zu entdecken, inwiefern er eine Rolle spielt und inwieweit er Schauspieler sein kann, wird er Schauspieler… Damit kommt dann eine neue Flora und Fauna von Menschen herauf, die in festeren, beschränkteren Zeitaltern nicht wachsen können — oder» unten «gelassen werden, unter dem Banne und Verdachte der Ehrlosigkeit —, es kommen damit jedes Mal die interessantesten und tollsten Zeitalter der Geschichte herauf, in denen die» Schauspieler«, alle Arten Schauspieler, die eigentlichen Herren sind. Eben dadurch wird eine andre Gattung Mensch immer tiefer benachtheiligt, endlich unmöglich gemacht, vor Allem die grossen» Baumeister«; jetzt erlahmt die bauende Kraft; der Muth, auf lange Fernen hin Pläne zu machen, wird entmuthigt; die organisatorischen Genies fangen an zu fehlen: — wer wagt es nunmehr noch, Werke zu unternehmen, zu deren Vollendung man auf Jahrtausende rechnen müsste? Es stirbt eben jener Grundglaube aus, auf welchen hin Einer dergestalt rechnen, versprechen, die Zukunft im Plane vorwegnehmen, seinem Plane zum Opfer bringen kann, dass nämlich der Mensch nur insofern Werth hat, Sinn hat, als er ein Stein in einem grossen Baue ist: wozu er zuallererst fest sein muss,»Stein «sein muss… Vor Allem nicht — Schauspieler! Kurz gesagt — ach, es wird lang genug noch verschwiegen werden! — was von nun an nicht mehr gebaut wird, nicht mehr gebaut werden kann, das ist — eine Gesellschaft im alten Verstande des Wortes; um diesen Bau zu bauen, fehlt Alles, voran das Material. Wir Alle sind kein Material mehr für eine Gesellschaft: das ist eine Wahrheit, die an der Zeit ist! Es dünkt mich gleichgültig, dass einstweilen noch die kurzsichtigste, vielleicht ehrlichste, jedenfalls lärmendste Art Mensch, die es heute giebt, unsre Herrn Socialisten, ungefähr das Gegentheil glaubt, hofft, träumt, vor Allem schreit und schreibt; man liest ja ihr Zukunftswort» freie Gesellschaft «bereits auf allen Tischen und Wänden. Freie Gesellschaft? Ja! Ja! Aber ihr wisst doch, ihr Herren, woraus man die baut? Aus hölzernem Eisen! Aus dem berühmten hölzernen Eisen! Und noch nicht einmal aus hölzernem…

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