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Inwiefern Moral kaum entbehrlich ist. — Der nackte Mensch ist im Allgemeinen ein schändlicher Anblick — ich rede von uns Europäern (und nicht einmal von den Europäerinnen!) Angenommen, die froheste Tischgesellschaft sähe sich plötzlich durch die Tücke eines Zauberers enthüllt und ausgekleidet, ich glaube, dass nicht nur der Frohsinn dahin und der stärkste Appetit entmuthigt wäre, — es scheint, wir Europäer können jener Maskerade durchaus nicht entbehren, die Kleidung heisst. Sollte aber die Verkleidung der» moralischen Menschen«, ihre Verhüllung unter moralische Formeln und Anstandsbegriffe, das ganze wohlwollende Verstecken unserer Handlungen unter die Begriffe Pflicht, Tugend, Gemeinsinn, Ehrenhaftigkeit, Selbstverleugnung nicht seine ebenso guten Gründe haben? Nicht dass ich vermeinte, hierbei sollte etwa die menschliche Bosheit und Niederträchtigkeit, kurz das schlimme wilde Thier in uns vermummt werden; mein Gedanke ist umgekehrt, dass wir gerade als zahme Thiere ein schändlicher Anblick sind und die Moral-Verkleidung brauchen, — dass der» inwendige Mensch «in Europa eben lange nicht schlimm genug ist, um sich damit» sehen lassen «zu können (um damit schön zu sein —). Der Europäer verkleidet sich in die Moral, weil er ein krankes, kränkliches, krüppelhaftes Thier geworden ist, das gute Gründe hat,»zahm «zu sein, weil er beinahe eine Missgeburt, etwas Halbes, Schwaches, Linkisches ist…. Nicht die Furchtbarkeit des Raubthiers findet eine moralische Verkleidung nöthig, sondern das Heerdenthier mit seiner tiefen Mittelmässigkeit, Angst und Langenweile an sich selbst. Moral putzt den Europäer auf — gestehen wir es ein! — in's Vornehmere, Bedeutendere, Ansehnlichere, in's» Göttliche»—

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Vom Ursprung der Religionen. — Die eigentliche Erfindung der Religionsstifter ist einmal: eine bestimmte Art Leben und Alltag der Sitte anzusetzen, welche als disciplina voluntatis wirkt und zugleich die Langeweile wegschafft; sodann: gerade diesem Leben eine Interpretation zu geben, vermöge deren es vom höchsten Werthe umleuchtet scheint, so dass es nunmehr zu einem Gute wird, für das man kämpft und, unter Umständen, sein Leben lässt. In Wahrheit ist von diesen zwei Erfindungen die zweite die wesentlichere: die erste, die Lebensart, war gewöhnlich schon da, aber neben andren Lebensarten und ohne Bewusstsein davon, was für ein Werth ihr innewohne. Die Bedeutung, die Originalität des Religionsstifters kommt gewöhnlich darin zu Tage, dass er sie sieht, dass er sie auswählt, dass er zum ersten Male erräth, wozu sie gebraucht, wie sie interpretirt werden kann. Jesus (oder Paulus) zum Beispiel fand das Leben der kleinen Leute in der römischen Provinz vor, ein bescheidenes tugendhaftes gedrücktes Leben: er legte es aus, er legte den höchsten Sinn und Werth hinein — und damit den Muth, jede andre Art Leben zu verachten, den stillen Herrenhuter-Fanatismus, das heimliche unterirdische Selbstvertrauen, welches wächst und wächst und endlich bereit ist,»die Welt zu überwinden«(das heisst Rom und die höheren Stände im ganzen Reiche). Buddha insgleichen fand jene Art Menschen vor, und zwar zerstreut unter alle Stände und gesellschaftliche Stufen seines Volks, welche aus Trägheit gut und gütig (vor Allem inoffensiv) sind, die, ebenfalls aus Trägheit, abstinent, beinahe bedürfnisslos leben: er verstand, wie eine solche Art Menschen mit Unvermeidlichkeit, mit der ganzen vis inertiae, in einen Glauben hineinrollen müsse, der die Wiederkehr der irdischen Mühsal (das heisst der Arbeit, des Handelns überhaupt) zu verhüten verspricht, — dies» Verstehen «war sein Genie. Zum Religionsstifter gehört psychologische Unfehlbarkeit im Wissen um eine bestimmte Durchschnitts-Art von Seelen, die sich noch nicht als zusammengehörig erkannt haben. Er ist es, der sie zusammenbringt; die Gründung einer Religion wird insofern immer zu einem langen Erkennungs-Feste. —

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Vom» Genius der Gattung«. — Das Problem des Bewusstseins (richtiger: des Sich-Bewusst-Werdens) tritt erst dann vor uns hin, wenn wir zu begreifen anfangen, inwiefern wir seiner entrathen könnten: und an diesen Anfang des Begreifens stellt uns jetzt Physiologie und Tiergeschichte (welche also zwei Jahrhunderte nöthig gehabt haben, um den vorausfliegenden Argwohn Leibnitzens einzuholen). Wir könnten nämlich denken, fühlen, wollen, uns erinnern, wir könnten ebenfalls» handeln «in jedem Sinne des Wortes: und trotzdem brauchte das Alles nicht uns» in's Bewusstsein zu treten«(wie man im Bilde sagt). Das ganze Leben wäre möglich, ohne dass es sich gleichsam im Spiegel sähe: wie ja thatsächlich auch jetzt noch bei uns der bei weitem überwiegende Theil dieses Lebens sich ohne diese Spiegelung abspielt —, und zwar auch unsres denkenden, fühlenden, wollenden Lebens, so beleidigend dies einem älteren Philosophen klingen mag. Wozu überhaupt Bewusstsein, wenn es in der Hauptsache überflüssig ist? — Nun scheint mir, wenn man meiner Antwort auf diese Frage und ihrer vielleicht ausschweifenden Vermuthung Gehör geben will, die Feinheit und Stärke des Bewusstseins immer im Verhältniss zur Mittheilungs-Fähigkeit eines Menschen (oder Thiers) zu stehn, die Mittheilungs-Fähigkeit wiederum im Verhältniss zur Mittheilungs-Bedürftigkeit: letzteres nicht so verstanden, als ob gerade der einzelne Mensch selbst, welcher gerade Meister in der Mittheilung und Verständlichmachung seiner Bedürfnisse ist, zugleich auch mit seinen Bedürfnissen am meisten auf die Andern angewiesen sein müsste. Wohl aber scheint es mir so in Bezug auf ganze Rassen und Geschlechter-Ketten zu stehn: wo das Bedürfniss, die Noth die Menschen lange gezwungen hat, sich mitzutheilen, sich gegenseitig rasch und fein zu verstehen, da ist endlich ein Ueberschuss dieser Kraft und Kunst der Mittheilung da, gleichsam ein Vermögen, das sich allmählich aufgehäuft hat und nun eines Erben wartet, der es verschwenderisch ausgiebt (- die sogenannten Künstler sind diese Erben, insgleichen die Redner, Prediger, Schriftsteller, Alles Menschen, welche immer am Ende einer langen Kette kommen,»Spätgeborne «jedes Mal, im besten Verstande des Wortes, und, wie gesagt, ihrem Wesen nach Verschwender). Gesetzt, diese Beobachtung ist richtig, so darf ich zu der Vermuthung weitergehn, dass Bewusstsein überhaupt sich nur unter dem Druck des Mittheilungs-Bedürfnisses entwickelt hat, — dass es von vornherein nur zwischen Mensch und Mensch (zwischen Befehlenden und Gehorchenden in Sonderheit) nöthig war, nützlich war, und auch nur im Verhältniss zum Grade dieser Nützlichkeit sich entwickelt hat. Bewusstsein ist eigentlich nur ein Verbindungsnetz zwischen Mensch und Mensch, — nur als solches hat es sich entwickeln müssen: der einsiedlerische und raubthierhafte Mensch hätte seiner nicht bedurft. Dass uns unsre Handlungen, Gedanken, Gefühle, Bewegungen selbst in's Bewusstsein kommen — wenigstens ein Theil derselben —, das ist die Folge eines furchtbaren langen über dem Menschen waltenden» Muss«: er brauchte, als das gefährdetste Thier, Hülfe, Schutz, er brauchte Seines-Gleichen, er musste seine Noth auszudrücken, sich verständlich zu machen wissen — und zu dem Allen hatte er zuerst» Bewusstsein «nöthig, also selbst zu» wissen «was ihm fehlt, zu» wissen«, wie es ihm zu Muthe ist, zu» wissen«, was er denkt. Denn nochmals gesagt: der Mensch, wie jedes lebende Geschöpf, denkt immerfort, aber weiss es nicht; das bewusst werdende Denken ist nur der kleinste Theil davon, sagen wir: der oberflächlichste, der schlechteste Theil: — denn allein dieses bewusste Denken geschieht in Worten, das heisst in Mittheilungszeichen, womit sich die Herkunft des Bewusstseins selber aufdeckt. Kurz gesagt, die Entwicklung der Sprache und die Entwicklung des Bewusstseins (nicht der Vernunft, sondern allein des Sichbewusst-werdens der Vernunft) gehen Hand in Hand. Man nehme hinzu, dass nicht nur die Sprache zur Brücke zwischen Mensch und Mensch dient, sondern auch der Blick, der Druck, die Gebärde; das Bewusstwerden unserer Sinneseindrücke bei uns selbst, die Kraft, sie fixiren zu können und gleichsam ausser uns zu stellen, hat in dem Maasse zugenommen, als die Nöthigung wuchs, sie Andern durch Zeichen zu übermitteln. Der Zeichen-erfindende Mensch ist zugleich der immer schärfer seiner selbst bewusste Mensch; erst als sociales Thier lernte der Mensch seiner selbst bewusst werden, — er thut es noch, er thut es immer mehr. — Mein Gedanke ist, wie man sieht: dass das Bewusstsein nicht eigentlich zur Individual-Existenz des Menschen gehört, vielmehr zu dem, was an ihm Gemeinschafts- und Heerden-Natur ist; dass es, wie daraus folgt, auch nur in Bezug auf Gemeinschafts- und Heerden-Nützlichkeit fein entwickelt ist, und dass folglich Jeder von uns, beim besten Willen, sich selbst so individuell wie möglich zu verstehen,»sich selbst zu kennen«, doch immer nur gerade das Nicht-Individuelle an sich zum Bewusstsein bringen wird, sein» Durchschnittliches«, — dass unser Gedanke selbst fortwährend durch den Charakter des Bewusstseins — durch den in ihm gebietenden» Genius der Gattung«— gleichsam majorisirt und in die Heerden-Perspektive zurück-übersetzt wird. Unsre Handlungen sind im Grunde allesammt auf eine unvergleichliche Weise persönlich, einzig, unbegrenzt-individuell, es ist kein Zweifel; aber sobald wir sie in's Bewusstsein übersetzen, scheinen sie es nicht mehr… Diess ist der eigentliche Phänomenalismus und Perspektivismus, wie ich ihn verstehe: die Natur des thierischen Bewusstseins bringt es mit sich, dass die Welt, deren wir bewusst werden können, nur eine Oberflächen- und Zeichenwelt ist, eine verallgemeinerte, eine vergemeinerte Welt, — dass Alles, was bewusst wird, ebendamit flach, dünn, relativ-dumm, generell, Zeichen, Heerden-Merkzeichen wird, dass mit allem Bewusstwerden eine grosse gründliche Verderbniss, Fälschung, Veroberflächlichung und Generalisation verbunden ist. Zuletzt ist das wachsende Bewusstsein eine Gefahr; und wer unter den bewusstesten Europäern lebt, weiss sogar, dass es eine Krankheit ist. Es ist, wie man erräth, nicht der Gegensatz von Subjekt und Objekt, der mich hier angeht: diese Unterscheidung überlasse ich den Erkenntnisstheoretikern, welche in den Schlingen der Grammatik (der Volks-Metaphysik) hängen geblieben sind. Es ist erst recht nicht der Gegensatz von» Ding an sich «und Erscheinung: denn wir» erkennen «bei weitem nicht genug, um auch nur so scheiden zu dürfen. Wir haben eben gar kein Organ für das Erkennen, für die» Wahrheit«: wir» wissen«(oder glauben oder bilden uns ein) gerade so viel als es im Interesse der Menschen-Heerde, der Gattung, nützlich sein mag: und selbst, was hier» Nützlichkeit «genannt wird, ist zuletzt auch nur ein Glaube, eine Einbildung und vielleicht gerade jene verhängnissvollste Dummheit, an der wir einst zu Grunde gehn.

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