173
Tief sein und tief scheinen. — Wer sich tief weiss, bemüht sich um Klarheit; wer der Menge tief scheinen möchte, bemüht sich um Dunkelheit. Denn die Menge hält Alles für tief, dessen Grund sie nicht sehen kann: sie ist so furchtsam und geht so ungern in's Wasser.
174
Abseits. — Der Parlamentarismus, das heisst die öffentliche Erlaubniss, zwischen fünf politischen Grundmeinungen wählen zu dürfen, schmeichelt sich bei jenen Vielen ein, welche gerne selbständig und individuell scheinen und für ihre Meinungen kämpfen möchten. Zuletzt aber ist es gleichgültig, ob der Heerde Eine Meinung befohlen oder fünf Meinungen gestattet sind. — Wer von den fünf öffentlichen Meinungen abweicht und bei Seite tritt, hat immer die ganze Heerde gegen sich.
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Von der Beredtsamkeit. — Wer besass bis jetzt die überzeugendste Beredtsamkeit? Der Trommelwirbel: und so lange die Könige diesen in der Gewalt haben, sind sie immer noch die besten Redner und Volksaufwiegler.
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Mitleiden. — Die armen regierenden Fürsten! Alle ihre Rechte verwandeln sich jetzt unversehens in Ansprüche, und all diese Ansprüche klingen bald wie Anmaassungen! Und wenn sie nur» Wir «sagen oder» mein Volk«, so lächelt schon das alte boshafte Europa. Wahrhaftig, ein Oberceremonienmeister der modernen Welt würde wenig Ceremonien mit ihnen machen; vielleicht würde er decretiren:»les souverains rangent aux parvenus».
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Zum Erziehungswesen. — In Deutschland fehlt dem höheren Menschen ein grosses Erziehungsmittel: das Gelächter höherer Menschen; diese lachen nicht in Deutschland.
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Zur moralischen Aufklärung. — Man muss den Deutschen ihren Mephistopheles ausreden: und ihren Faust dazu. Es sind zwei moralische Vorurtheile gegen den Werth der Erkenntniss.
179
Gedanken. — Gedanken sind die Schatten unserer Empfindungen, — immer dunkler, leerer, einfacher, als diese.
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Die gute Zeit der freien Geister. — Die freien Geister nehmen sich auch vor der Wissenschaft noch ihre Freiheiten — und einstweilen giebt man sie ihnen auch, — so lange die Kirche noch steht! — In so fern haben sie jetzt ihre gute Zeit.
181
Folgen und Vorangehen. — A.:»Von den Beiden wird der Eine immer folgen, der Andere immer vorangehen, wohin sie auch das Schicksal führt. Und doch steht der Erstere über dem Anderen, nach seiner Tugend und seinem Geiste!«B.:»Und doch? Und doch? Das ist für die Anderen geredet; nicht für mich, nicht für uns! — Fit secundum regulam.»
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In der Einsamkeit. — Wenn man allein lebt, so spricht man nicht zu laut, man schreibt auch nicht zu laut: denn man fürchtet den hohlen Widerhall — die Kritik der Nymphe Echo. — Und alle Stimmen klingen anders in der Einsamkeit!
183
Die Musik der besten Zukunft. — Der erste Musiker würde mir der sein, welcher nur die Traurigkeit des tiefsten Glückes kennte, und sonst keine Traurigkeit: einen solchen gab es bisher nicht.
184
Justiz. — Lieber sich bestehlen lassen, als Vogelscheuchen um sich haben — das ist mein Geschmack. Und es ist unter allen Umständen eine Sache des Geschmackes — und nicht mehr!
185
Arm. — Er ist heute arm: aber nicht weil man ihm Alles genommen, sondern weil er Alles weggeworfen hat: — was macht es ihm? Er ist daran gewöhnt, zu finden. — Die Armen sind es, welche seine freiwillige Armuth missverstehen.
186
Schlechtes Gewissen. — Alles, was er jetzt thut, ist brav und ordentlich — und doch hat er ein schlechtes Gewissen dabei. Denn das Ausserordentliche ist seine Aufgabe.
187
Das Beleidigende im Vortrage. — Dieser Künstler beleidigt mich durch die Art, wie er seine Einfälle, seine sehr guten Einfälle vorträgt: so breit und nachdrücklich, und mit so groben Kunstgriffen der Ueberredung, als ob er zum Pöbel spräche. Wir sind immer nach einiger Zeit, die wir seiner Kunst schenkten, wie» in schlechter Gesellschaft».
188
Arbeit. — Wie nah steht jetzt auch dem Müssigsten von uns die Arbeit und der Arbeiter! Die königliche Höflichkeit in dem Worte» wir Alle sind Arbeiter!«wäre noch unter Ludwig dem Vierzehnten ein Cynismus und eine Indecenz gewesen.
189
Der Denker. — Er ist ein Denker: das heisst, er versteht sich darauf, die Dinge einfacher zu nehmen, als sie sind.
190
Gegen die Lobenden. — A.:»Man wird nur von Seinesgleichen gelobt!«B.:»Ja! Und wer dich lobt, sagt zu dir: du bist Meinesgleichen!»
191
Gegen manche Vertheidigung. — Die perfideste Art, einer Sache zu schaden, ist, sie absichtlich mit fehlerhaften Gründen vertheidigen.
192
Die Gutmüthigen. — Was unterscheidet jene Gutmüthigen, denen Wohlwollen aus dem Gesichte strahlt, von den anderen Menschen? Sie fühlen sich in Gegenwart einer neuen Person wohl und sind schnell in sie verliebt; sie wollen ihr dafür wohl, ihr erstes Urtheil ist» sie gefällt mir«. Bei ihnen folgt auf einander: Wunsch der Aneignung (sie machen sich wenig Scrupel über den Werth des Anderen), rasche Aneignung, Freude am Besitz und Handeln zu Gunsten des Besessenen.
193
Kant's Witz. — Kant wollte auf eine» alle Welt «vor den Kopf stossende Art beweisen, dass» alle Welt «Recht habe: — das war der heimliche Witz dieser Seele. Er schrieb gegen die Gelehrten zu Gunsten des Volks-Vorurtheils, aber für Gelehrte und nicht für das Volk.
194
Der» Offenherzige«. — Jener Mensch handelt wahrscheinlich immer nach verschwiegenen Gründen: denn er trägt immer mittheilbare Gründe auf der Zunge und beinahe in der offnen Hand.
195
Zum Lachen! — Seht hin! Seht hin! Er läuft von den Menschen weg —: diese aber folgen ihm nach, weil er vor ihnen herläuft, — so sehr sind sie Heerde!
196
Grenze unseres Hörsinns. — Man hört nur die Fragen, auf welche man im Stande ist, eine Antwort zu finden.