18
Ravic kam vom Bahnhof. Er war müde und schmutzig.
Er hatte dreizehn Stunden in einem heißen Zug hinter sich mit Leuten, die nach Knoblauch stanken, Jägern mit Hunden, Frauen mit Hühner- und Taubenkörben auf dem Schoß. Und vorher drei Monate an der Grenze...
Es blinkte in der Dämmerung. Er sah auf. Es blinkte, als ständen Spiegelpyramiden rund um den Rond Point und würfen sich das graue letzte Mailicht zu.
Er blieb stehen und sah schärfer hin. Es waren Spiegelpyramiden. Sie standen überall hinter den Tulpenbeeten in gespenstischer Wiederholung. »Was ist denn das?« fragte er den Gärtner, der neben ihm ein Beet ausgeworfener Erde glättete.
»Spiegel«, antwortete der Gärtner, ohne aufzublicken.
»Das sehe ich. Das letztemal, als ich hier war, war das noch nicht da.«
»Lange nicht hier gewesen?«
»Drei Monate.«
»Ah, drei Monate! Das hier haben sie in den letzten zwei Wochen gemacht. Für den König von England. Kommt zu Besuch. Kann er sein Gesicht dann drin abspiegeln.«
»Schauderhaft«, sagte Ravic.
»Natürlich«, sagte der Gärtner, ohne erstaunt zu sein.
Ravic ging weiter. Drei Monate — drei Jahre — drei Tage — was war die Zeit? Nichts und alles. Daß die Kastanien jetzt blühten — und damals hatten sie noch keine Blätter gehabt, daß Deutschland wieder einmal seine Verträge gebrochen und die gesamte Tschechoslowakei besetzt hatte, daß in Genf der Emigrant Josef Blumenthal sich in einem Anfall hysterischen Gelächters vor dem Palast des Völkerbundes erschossen hatte, daß irgendwo in seiner Brust noch der Rest einer Lungenentzündung stach, die er in Beifort unter dem Namen Günther überstanden hatte, und daß er jetzt wieder hier war, an einem Abend, weich wie eine Frauenbrust — es war alles fast ohne Überraschung. Man nahm, wie man vieles nahm, mit der fatalistischen Gelassenheit, die die einzige Waffe der Hilflosigkeit war. Der Himmel blieb überall derselbe, immer derselbe, über Mord und Haß und Opfer und Liebe — die Bäume blühten ahnungslos in jedem Jahr wieder, die pflaumenblaue Dämmerung wechselte und kam und ging, unbekümmert um Pässe, Verrat, Trostlosigkeit und Hoffnung. Es war gut, wieder in Paris zu sein. Es war gut, zu gehen, langsam zu gehen, diese Straße entlang im silbergrauen Licht, ohne zu denken; es war gut, diese Stunde zu haben, noch voll Aufschub, voll sanften Verschwimmens, an der Grenze, wo fernste Trauer und zartestes Immerwieder-Glück, einfach noch am Leben zu sein, sich horizonthaft mischten — diese Stunde ersten Ankommens, bevor man wieder getroffen wurde von Messern und Pfeilen — dieses seltene Kreaturgefühl, diesen Atem, der weit ging und von weit her kam, dieses Wehen, noch ohne Fühlen, die Straße des Herzens entlang, vorüber an den trüben Feuern der Tatsachen, an den Nagelkreuzen des Gewesenen und an den Stachelhaken des Kommenden, die Zäsur, das Schweigen im Schwingen, der Augenblick Pause, offenstes und geschlossenstes Sein, milder Takt Ewigkeit im Vergänglichsten der Welt…
Morosow saß im Palmenraum des »International«. Er hatte eine Karaffe Wein vor sich. »Hallo, Boris, alter Knabe«, sagte Ravic. »Ich scheine im richtigen Augenblick wiederzukommen. Ist das Vouvray?«
»Immer noch. Vierunddreißiger dieses Mal. Etwas süßer und voller. Gut, daß du wieder da bist. Drei Monate, was?«
»Ja. Länger als sonst.«
Morosow setzte eine altmodische Tischklingel in Bewegung. Sie läutete wie eine Ministrantenglocke in einer Dorfkirche. Die Katakomben hatten nur elektrisches Licht, keine elektrischen Klingeln. »Wie heißt du jetzt?« fragte Morosow.
»Immer noch Ravic. Ich habe den Namen bei der Polizei nicht benutzt. Hieß da Wozzek, Neumann, Günther. Eine Kaprice. Wollte Ravic nicht aufgeben. Gefällt mir als Name.«
»Sie haben nicht herausgekriegt, daß du hier wohnst, was?«
»Natürlich nicht.«
»Klar. Hätten sonst bestimmt eine Razzia gemacht. Dann kannst du ja wieder hier wohnen. Dein Zimmer ist frei.«
»Weiß die Alte, was los war?«
»Nein, niemand. Ich habe gesagt, du wärest nach Rouen gefahren. Deine Sachen sind in meiner Bude.«
Das Mädchen kam mit dem Tablett. »Clarisse, bringen Sie Herrn Ravic ein Glas«, sagte Morosow.
»Ach, Herr Ravic!« Das Mädchen zeigte seine Zähne. »Wieder zurück? Sie waren über ein halbes Jahr weg, Monsieur.«
»Drei Monate, Clarisse.«
»Nicht möglich. Ich dachte, es wäre ein halbes Jahr.«
Sie schlurfte davon. Gleich darauf kam der speckige Kellner der Katakombe mit einem Weinglas in der Hand. Er trug kein Tablett; er war schon zu lange da und konnte sich Bequemlichkeiten leisten. Morosow sah seinem Gesicht an, was kommen würde, und kam ihm zuvor. »Gut, Jean, sag gleich, wie lange Herr Ravic weg war. Weißt du es genau?«
»Aber Herr Morosow! Natürlich weiß ich das genau! Auf den Tag sogar. Es sind genau...«, er machte eine Kunstpause, lächelte und sagte: »Viereinhalb Wochen genau.«
»Stimmt«, sagte Ravic, bevor Morosow antworten konnte.
»Stimmt«, erwiderte Morosow ebenfalls.
»Selbstverständlich. Ich irre mich nie.« Jean verschwand.
»Ich wollte ihn nicht enttäuschen, Boris.«
»Ich auch nicht. Ich wollte dir nur die Hinfälligkeit der Zeit demonstrieren, wenn sie Vergangenheit geworden ist. Tröstet, erschreckt und macht gleichgültig. Ich verlor den Oberleutnant Bielski vom Neobraschensker Garderegiment im Jahre 1917 in Moskau aus den Augen. Wir waren Freunde. Er ging nach Norden über Finnland. Ich machte den Weg über die Mandschurei und Japan. Als wir uns dann hier acht Jahre später wieder trafen, glaubte ich ihn das letzte Mal 1919 in Harbin gesehen zu haben; er mich 1921 in Helsinki. Eine Differenz von zwei Jahren — und von einigen tausend Kilometern.« Morosow nahm die Karaffe und schenkte ein. »Du siehst, sie kennen dich hier immerhin noch wieder. Gibt einem schon eine Art Heimatgefühl, wie?«
Ravic trank. Der Wein war leicht und kühl. »Ich war inzwischen einmal dicht an der deutschen Grenze«, sagte er. »Sehr dicht, unten in Basel. Die eine Seite der Straße war schweizerisch, die andere deutsch. Ich stand auf der Schweizer Seite und aß Kirschen. Die Kerne konnte ich nach Deutschland hinüberspucken.«
»Gab dir das auch ein Heimatgefühl?«
»Nein. Ich war nie weiter weg.«
Morosow grinste. »Kann ich verstehen. Wie war’s unterwegs?«
»Wie immer. Es wird schwieriger, das ist alles. Sie bewachen die Grenzen schärfer. Schnappten mich einmal in der Schweiz und einmal in Frankreich.«
»Warum hast du nie etwas von dir hören lassen?«
»Ich wußte nicht, wie weit die Polizei hier gekommen war. Sie haben ja manchmal Anfälle von Energie. Besser, keinen zu gefährden. Unsere Alibis sind schließlich alle nicht so ganz hervorragend. Alte Kriegsregel: still liegen und verschwinden. Hast du etwas anderes erwartet?«
»Ich nicht.«
Ravic sah ihn an. »Briefe«, sagte er dann. »Was sind Briefe? Briefe helfen nie etwas.«
»Nein.«
Ravic zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche. »Sonderbar, wie das alles wird, wenn man weg ist.«
»Mach dir nichts vor«, erwiderte Morosow.
»Das tue ich auch nicht.«
»Wenn man wegbleibt, ist es gut. Wenn man wiederkommt, ist es anders. Dann geht es wieder los.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«
»Du bist ziemlich kryptisch. Gut, daß du es so nimmst. Wollen wir eine Partie Schach spielen? Der Professor ist gestorben. War der einzige würdige Gegner. Lewy ist nach Brasilien gegangen. Stellung als Kellner. Das Leben geht verdammt rasch heutzutage. Man soll sich an nichts gewöhnen.«
»Das soll man nicht.«
Morosow blickte Ravic aufmerksam an. »So meinte ich das nicht.«
»Ich auch nicht. Aber können wir nicht dieses muffige Palmengrab verlassen? Ich war drei Monate nicht hier; trotzdem stinkt es wie immer — nach Küche, Staub und Angst. Wann mußt du los?«
»Heute überhaupt nicht. Habe meinen freien Abend.«