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Durant, dachte Ravic. Das ist die Rache für die zweitausend Frank. Aber wer macht ihm jetzt seine Operationen? Binot, wahrscheinlich. Haben sich doch wohl wieder vertragen.

Er merkte, daß er nicht mehr zugehört hatte. Erst als Vebers Name fiel, wurde er wieder aufmerksam. »Ein Doktor Veber hat sich für Sie verwendet. Kennen Sie ihn?«

»Flüchtig.«

»Er war hier.« Leval starrte einen Moment glotzäugig vor sich hin. Dann nieste er mächtig, holte ein Taschentuch hervor, schneuzte sich umständlich, besah, was er geschneuzt hatte, faltete das Taschentuch zusammen und steckte es wieder ein. »Ich kann nichts für Sie tun. Wir müssen strikt sein. Sie werden ausgewiesen.«

»Das weiß ich.«

»Waren Sie schon einmal in Frankreich?«

»Nein.«

»Sechs Monate Gefängnis, wenn Sie wiederkommen. Wissen Sie das?«

»Ja.«

»Ich werde dafür sorgen, daß Sie so bald wie möglich ausgewiesen werden. Das ist alles, was ich für Sie tun kann. Haben Sie Geld?«

»Ja.«

»Gut. Dann müssen Sie die Reise für den begleitenden Polizisten und für sich bis zur Grenze bezahlen.« Er nickte. »Sie können gehen.« »Irgendeine bestimmte Zeit, wann wir zurück sein müssen?« fragte Ravic den Beamten, der ihn zurückbrachte. »Nicht genau. Je nachdem. Warum?« »Ich möchte einen Aperitif trinken.« Der Beamte sah ihn an. »Ich laufe nicht weg«, sagte Ravic, holte einen Zwanzigfrankschein hervor und spielte damit. »Schön. Ein paar Minuten können nichts ausmachen.«

Sie ließen das Taxi am nächsten Bistro halten. Ein paar Tische standen bereits draußen. Es war kühl, aber die Sonne schien. »Was nehmen Sie?« fragte Ravic.

»Amèr Picon. Nichts anderes um diese Zeit.«

»Mir einen großen Fine. Ohne Wasser.«

Ravic saß ruhig da und atmete tief. Luft — was das sein konnte! Die Zweige an den Bäumen auf dem Trottoir hatten braun glänzende Knospen. Es roch nach frischem Brot und jungem Wein. Der Kellner brachte die Gläser. »Wo ist das Telefon?« fragte Ravic.

»Drinnen, rechts, neben der Toilette.«

»Aber...«, sagte der Beamte.

Ravic steckte ihm den Zwanzigfrankschein in die Hand.

»Sie können sich wohl denken, an wen ich telefoniere. Ich verschwinde nicht. Sie können ja mitgehen. Kommen Sie.«

Der Beamte zögerte nicht lange. »Schön«, sagte er und stand auf. »Mensch ist schließlich bloß Mensch.«

»Joan...«

»Ravic! Mein Gott! Wo bist du? Haben Sie dich herausgelassen? Sag mir, wo bist du...«

»In einem Bistro...«

»Laß das. Sag mir, wo du wirklich bist.«

»Ich bin in einem Bistro.«

»Wo? Bist du nicht mehr im Gefängnis? Wo bist du die ganze Zeit gewesen? Dieser Morosow...«

»Er hat dir genau das gesagt, was los war.«

»Er hat mir nicht einmal gesagt, wohin sie dich gebracht haben. Ich hätte dich sofort...«

»Deshalb hat er es dir nicht gesagt, Joan. Besser so.«

»Weshalb telefonierst du von einem Bistro? Weshalb kommst du nicht hierher?«

»Ich kann nicht kommen. Ich habe nur wenige Minuten Zeit. Konnte den Beamten überreden, hier einen Augenblick zu halten. Joan, ich werde in den nächsten Tagen zur Schweiz gebracht und...« Ravic spähte durch das Glasfenster. Der Beamte lehnte an der Th eke und redete. »Und ich komme gleich wieder.« Er wartete. »Joan...«

»Ich komme. Ich komme sofort. Wo bist du?«

»Du kannst nicht kommen. Ich bin eine halbe Stunde weit von dir. Ich habe nur ein paar Minuten.«

»Halte den Beamten fest! Gib ihm Geld! Ich kann Geld mitbringen!«

»Joan«, sagte Ravic. »Es geht nicht. Es ist einfacher so. Es ist besser.«

Er hörte sie atmen. »Du willst mich nicht sehen?« fragte sie dann.

Es war schwer. Ich hätte nicht telefonieren sollen, dachte er. Wie soll man etwas erklären, ohne den andern dabei ansehen zu können. »Ich möchte nichts weiter als dich sehen, Joan.«

»Dann komm! Der Mann kann mitkommen!«

»Es geht nicht. Ich muß aufhören. Sag mir rasch noch, was du jetzt tust.«

»Was? Wie meinst du das?«

»Was hast du an? Wo bist du?«

»In meinem Zimmer. Im Bett. Es war spät gestern nacht. Ich kann in einer Minute etwas anziehen und sofort kommen.«

Spät, gestern nacht. Richtig! Das ging ja alles weiter, auch wenn man eingesperrt war. Man vergaß das. Im Bett, halb verschlafen, die Mähne wirr auf den Kissen, auf Stühle verstreut Strümpfe, Wäsche, ein Abendkleid — wie das schwankte: die vor Atem halb angelaufene Scheibe der heißen Telefonbox; der endlos weit entfernte Kopf des Beamten, der darin schwamm wie in einem Aquarium — er riß sich zusammen. »Ich muß jetzt aufhören, Joan.«

Er hörte ihre fassungslose Stimme. »Aber das ist doch unmöglich! Du kannst nicht einfach so weggehen, und ich weiß nichts, nicht wohin und was...« Aufgestützt, die Kissen fortgestoßen, das Telefon wie eine Waffe und wie einen Feind in der Hand, die Schultern, die Augen, tief und dunkel vor Erregung...

»Ich gehe nicht in den Krieg. Ich muß nur einfach einmal in die Schweiz reisen. Ich werde bald zurück sein. Denk, ich sei ein Geschäftsmann, der beim Völkerbund eine Ladung Maschinengewehre verkaufen will.«

»Wenn du zurückkommst, wird es dann wieder dasselbe sein. Ich werde nicht leben können vor Angst.«

»Sag das letzte noch einmal.«

»Es ist doch wahr!« Ihre Stimme war zornig. »Ich bin die letzte, die irgend etwas weiß! Veber kann dich besuchen, ich nicht! Morosow hast du telefoniert, mir nicht! Und jetzt gehst du fort...«

»Mein Gott«, sagte Ravic. »Wir wollen uns nicht streiten, Joan.«

»Ich streite nicht. Ich sage nur, was los ist.«

»Gut. Ich muß jetzt aufhören. Adieu, Joan.«

»Ravic«, rief sie, »Ravic!«

»Ja...«

»Komm wieder! Komm wieder! Ich bin verloren ohne dich!«

»Ich komme wieder!«

»Ja — ja...«

»Adieu, Joan. Ich bin bald zurück.«

Er stand einen Augenblick in der heißen, dunstigen Box. Dann sah er, daß seine Hand den Hörer nicht losgelassen hatte. Er öffnete die Tür. Der Beamte sah auf, er lächelte gutmütig. »Fertig?«

»Ja.«

Sie gingen nach draußen zurück an den Tisch. Ravic trank sein Glas aus. Ich hätte nicht anrufen sollen, dachte er. Vorher war ich ruhig. Jetzt bin ich durcheinander. Ich hätte wissen sollen, daß ein Telefongespräch nicht anderes bringen konnte. Für mich und für Joan nicht. Er spürte die Versuchung, zurückzugehen und noch einmal anzurufen und ihr alles zu sagen, was er eigentlich hatte sagen wollen. Ihr zu erklären, warum er sie nicht sehen konnte. Daß er nicht wollte, daß sie ihn so sah, dreckig, gefangen. Aber er würde herauskommen, und es würde auch wieder so sein.

»Ich glaube, wir müssen aufbrechen«, sagte der Beamte.

»Ja...«

Ravic winkte dem Kellner. »Geben Sie mir zwei kleine Flaschen Kognak, alle Zeitungen und ein Dutzend Päckchen ›Caporal‹. Und die Rechnung.« Er sah den Beamten an. »In Ordnung, was?«

»Mensch ist Mensch«, sagte der Beamte.

Der Kellner brachte die Flaschen und die Zigaretten. »Ziehen Sie mir die Pfropfen«, sagte Ravic, während er die Zigaretten sorgfältig in seine Taschen verteilte. Er korkte die Flaschen wieder so zu, daß er sie bequem ohne Korkenzieher wieder öffnen konnte, und steckte sie in die Innentasche seines Mantels.

»Sie machen das gut«, sagte der Beamte.

»Übung. Leider. Hätte als Junge auch nicht geglaubt, daß ich im Alter noch einmal Indianer spielen müßte.«

Der Pole und der Schriftsteller waren begeistert über den Kognak. Der Installateur trank keinen Schnaps. Er war Biertrinker und erklärte, wieviel besser das Bier in Berlin sei. Ravic lag auf einer Pritsche und las die Zeitungen. Der Pole las nicht; er verstand kein Französisch. Er rauchte und war glücklich. Nachts begann der Installateur zu weinen. Ravic war wach. Er horchte auf das unterdrückte Schluchzen und starrte auf das kleine Fenster, hinter dem der bleiche Himmel schimmerte. Er konnte nicht schlafen. Auch später nicht, als der Installateur ruhig war. Zu gut gelebt, dachte er. Zu vieles schon, das schmerzt, wenn man es nicht mehr hat.

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