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Er sah, daß sie Zeit gewinnen wollte. Es war ihm gleich.

»Wo sind die Flaschen?« fragte er.

»Drüben in dem Schrank.«

Ravic öffnete den niedrigen Schrank. Eine Anzahl Flaschen stand darin. Die meisten davon waren weißer Crème de Menthe. Er betrachtete sie mit Abscheu und schob sie beiseite. In einer Ecke fand er eine halbe Flasche Martell und eine Flasche Calvados. Die Flasche mit Calvados war nicht geöffnet. Er ließ sie stehen und nahm den Kognak. »Trinkst du jetzt Pfefferminzschnaps?« fragte er über die Schulter.

»Nein«, erwiderte sie von der Couch her.

»Gut. Dann bringe ich den Kognak.«

»Es ist Calvados da«, sagte sie. »Mach den Calvados auf.«

»Der Kognak genügt.«

»Mach den Calvados auf.«

»Ein anderes Mal.«

»Ich möchte keinen Kognak. Ich möchte Calvados. Bitte, mach die Flasche auf.«

Ravic sah wieder in den Schrank hinein. Da stand rechts der weiße Pfefferminz für den anderen — und links der Calvados für ihn. Es war alles so hausfrauenhaft ordentlich, daß es einen fast rühren konnte. Er nahm die Flasche Calvados und zog sie auf. Warum schließlich nicht? Brave Symbolik des Lieblingsschnapses, sentimental verschmiert in eine alberne Abschiedsszene. Er ergriff zwei Gläser und ging zum Tisch zurück. Joan beobachtete ihn, während er den Calvados einschenkte.

Der Nachmittag stand groß und golden vor dem Fenster. Das war Licht, war farbiger, und der Himmel war heller geworden. Ravic sah auf die Uhr. Es war etwas nach drei. Er sah auf den Sekundenzeiger; er glaubte, sie sei stehengeblieben. Aber der Sekundenzeiger tickte wie ein kleiner, goldener Schnabel die Punkte des Kreises weiter auf. Es war Tatsache — er war erst eine halbe Stunde hier. Crème de Menthe, dachte er. Was für ein Geschmack!

Joan hockte auf der blauen Couch. »Ravic«, sagte sie weich, müde und vorsichtig. »War das wieder einer deiner Tricks, oder ist es wahr, daß du es verstehst?«

»Es ist kein Trick. Es ist wahr.«

»Du verstehst es?«

»Ja.« — »Ich wußte es.« Sie lächelte ihn an. »Ich wußte es, Ravic.«

»Es ist ziemlich einfach zu verstehen.«

Sie nickte. »Ich brauche etwas Zeit. Ich kann es nicht sofort. Er hat mir nichts getan. Ich wußte doch nicht, ob du jemals wiederkommen würdest. Ich kann es ihm nicht sofort sagen.«

Ravic schüttete sein Glas hinunter. »Wozu brauchen wir Einzelheiten?«

»Du sollst es wissen. Du sollst es verstehen. Es ist... ich brauche etwas Zeit. Er würde... ich weiß nicht, was er tun würde. Er liebt mich. Und er braucht mich. Er kann doch nichts dafür.«

»Natürlich nicht. Nimm dir alle Zeit der Welt, Joan.«

»Nein. Nur etwas. Nicht gleich.« Sie lehnte sich gegen die Kissen der Couch. »Und diese Wohnung hier, Ravic — das ist nicht so, wie du vielleicht denkst. Ich verdiene selbst Geld. Mehr als früher. Er hat mir geholfen. Er ist Schauspieler. Ich habe kleine Rollen im Film. Er hat mich da hineingebracht.«

»Das dachte ich mir.«

Sie beachtete es nicht. »Ich habe nicht viel Talent«, sagte sie. »Ich mache mir nichts vor. Aber ich wollte aus den Nachtklubs heraus. Man kann da nicht weiterkommen. Hier kann man es. Auch ohne Talent. Ich will unabhängig werden. Du magst das alles lächerlich finden...«

»Nein«, sagte Ravic. »Es ist vernünftig.«

Sie sah ihn an. »Bist du nicht deshalb nach Paris gekommen, damals?« fragte er. — »Ja.«

Da sitzt sie, dachte er, eine leise klagende Unschuldige, der das Leben und ich hart zugesetzt haben. Sie ist ruhig, der erste Sturm ist abgeschlagen; sie wird verzeihen, und wenn ich nicht bald gehe, wird sie mir die Geschichte der letzten Monate noch mit allen Einzelheiten erzählen, diese stählerne Orchidee, zu der ich gekommen bin, um klar Schluß zu machen, und die es jetzt bereits so weit gebracht hat, daß ich ihr fast recht geben muß.

»Gut, Joan«, sagte er. »Du bist jetzt soweit. Du wirst schon vorwärtskommen.«

Sie beugte sich vor. »Glaubst du?«

»Bestimmt.«

»Wirklich, Ravic?«

Er stand auf. Noch drei Minuten, und er würde in einem Fachgespräch über Film sein. Man darf mit ihnen nicht diskutieren, dachte er. Man kommt immer als Verlierer heraus. Logik ist Wachs in ihren Händen. Man soll handeln, fertig.

»So meinte ich das nicht«, sagte er. »Da fragst du besser deinen Spezialisten.«

»Willst du schon gehen?« fragte sie.

»Ich muß.«

»Warum bleibst du nicht noch?«

»Ich muß zur Klinik zurück.«

Sie nahm seine Hand und sah zu ihm auf. »Du sagtest vorhin, du wärest fertig in der Klinik, wenn du kämest.«

Er überlegte, ob er ihr sagen sollte, er käme nicht wieder. Aber es war genug für heute. Es war genug für sie und ihn. Das hatte sie immerhin verhindert. Aber es würde von selbst kommen. »Bleib hier, Ravic«, sagte sie.

»Ich kann nicht.«

Sie stand auf und lehnte sich dicht an ihn. Das auch noch, dachte er. Das alte Spiel. Billig und erprobt. Sie läßt nichts aus. Aber wer will von einer Katze verlangen, daß sie Gras frißt? Er machte sich los. »Ich muß. In der Klinik liegt ein Mann und stirbt.«

»Ärzte haben immer gute Gründe«, sagte sie langsam und sah ihn an.

»Wie Frauen, Joan. Wir verwalten den Tod und ihr die Liebe. Darin sind alle Gründe und alles Recht der Welt.«

Sie antwortete nicht.

»Wir haben auch gute Mägen«, sagte Ravic. Wir brauchen sie. Sonst könnten wir es nicht. Wo andere ohnmächtig werden, da fangen wir an, uns zu beleben. Adieu, Joan.«

»Du kommst wieder, Ravic?«

»Denk nicht darüber nach. Nimm dir deine Zeit. Du wirst es selbst herausfinden.«

Er ging rasch zur Tür und blickte sich nicht mehr um. Sie folgte ihm nicht. Aber er wußte, daß sie ihm nachsah. Er fühlte sich sonderbar taub — als ginge er unter Wasser.

22

Der Schrei kam aus dem Fenster der Familie Goldberg. Ravic horchte einen Augenblick. Es schien ihm ziemlich unmöglich, daß der alte Goldberg seiner Frau etwas an den Kopf geworfen oder sie geschlagen hatte. Er hörte auch nichts weiter. Nur ein Rennen, dann ein aufgeregtes Gespräch im Zimmer des Emigranten Wiesenhoff und Türenklappen.

Gleich darauf klopfte es an seiner Tür, und die Proprietaire stürzte herein. »Rasch — rasch — Monsieur Goldberg...«

»Was?«

»Erhängt. Am Fenster. Rasch...«

Ravic warf sein Buch weg. »Ist Polizei da?«

»Natürlich nicht. Sonst hätte ich Sie nicht gerufen! Sie hat ihn gerade erst gefunden.«

Ravic lief die Treppen mit ihr herunter. »Hat man ihn abgeschnitten?«

»Noch nicht. Sie halten ihn...«

In dem dämmrigen Zimmer stand eine dunkle Gruppe am Fenster. Ruth Goldberg, der Emgirant Wiesenhoff und noch jemand. Ravic drehte das Licht an. Wiesenhoff und Ruth Goldberg hatten den alten Goldberg in den Armen wie eine Puppe, und der dritte Mann versuchte nervös, den Knoten einer Krawatte zu lösen, die am Fenstergriff befestigt war.

»Schneiden Sie ihn ab...«

»Wir haben kein Messer hier«, schrie Ruth Goldberg.

Ravic holte eine Schere aus seiner Tasche und schnitt. Die Krawatte war aus dicker, schwerer, glatter Seide, und es dauerte ein paar Sekunden, ehe sie durchschnitten war. Ravic hatte Goldbergs Gesicht dabei dicht vor sich. Die herausgequollenen Augen, den offenen Mund, den dünnen, grauen Bart, die offene Zunge, die dunkelgrüne Krawatte mit weißen Punkten, die tief in den schrumpelig geblähten Hals einschnitt. — Der Körper schwankte leicht in den Armen Wiesenhoffs und Ruth Goldbergs, als wiege er sich in einem schrecklichen, erstarrten Gelächter lautlos hin und her.

Ruth Goldbergs Gesicht war rot und tränenüberströmt, und neben ihr schwitzte Wiesenhoff unter der Last des Körpers, der schwerer war als je im Leben. Zwei nasse, entsetzte, stöhnende Gesichter und darüber, schweigend, der sanft rollende Kopf, ins Jenseits grinsend, der, als Ravic die Krawatte durchschnitt, gegen Ruth Goldberg fiel, so daß sie mit einem Schrei zurückfuhr, die Arme losließ und der Körper mit schlenkernden Armen zur Seite rutschte und ihr mit einer grotesk clownhaften Bewegung zu folgen schien.

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