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Ravic wartete noch einige Sekunden. Dann schloß er den Kofferdeckel des Wagens ab und ließ den Motor an. Er konnte nichts mehr im Bois tun. Es war zu hell. Er mußte nach St. Germain fahren. Er kannte die Wälder dort.

30

Er hielt nach einer Stunde vor einem kleinen Gasthaus. Er war sehr hungrig, und sein Kopf war dumpf. Er parkte den Wagen vor dem Haus, wo zwei Tische und ein paar Stühle standen. Er bestellte Kaffee und Brioches und ging, sich zu waschen. Der Waschraum stank. Er ließ sich ein Glas geben und spülte sich den Mund aus. Dann wusch er seine Hände und ging zurück.

Das Frühstück stand auf dem Tisch. Der Kaffee roch wie alle Kaffees der Welt. Schwalben umflogen die Dächer, die Sonne hängte ihre ersten goldenen Gobelins an die Häuserwände, Leute gingen zur Arbeit, und hinter den Perlenvorhängen des Bistros scheuerte eine Magd mit aufgeschürzten Röcken die Fliesen. Es war der friedlichste Sommermorgen, den Ravic seit langem gesehen hatte.

Er trank den heißen Kaffee. Aber er konnte sich nicht entschließen, zu essen. Er wollte nichts anfassen mit seinen Händen. Er sah sie an. Unsinn, dachte er. Verdammt, ich will keine Komplexe kriegen. Ich muß essen. Er trank noch eine Tasse Kaffee. Er holte eine Zigarette hervor und achtete darauf, nicht das Ende, das er berührt hatte, in den Mund zu stecken. Das kann so nicht weitergehen, dachte er. Aber er aß trotzdem nicht. Ich muß es erst ganz erledigen, beschloß er und stand auf und zahlte.

Eine Herde Kühe. Schmetterlinge. Die Sonne über den Feldern. Die Sonne in der Windschutzscheibe. Die Sonne auf dem Verdeck. Die Sonne auf dem glänzenden Metall des Kofferdeckels, unter dem Haake lag — tot, ohne daß er gehört hatte, warum und durch wen. Es hätte anders sein müssen. Anders...

»Erkennst du mich, Haake? Weißt du, wer ich bin?«

Er sah das rote Gesicht vor sich. »Nein, wieso? Wer sind Sie? Haben wir uns früher schon einmal getroffen?«

»Ja.«

»Wann? Geduzt? Kadettenanstalt vielleicht? Erinnere mich nicht.«

»Du erinnerst dich nicht, Haake. Es war keine Kadettenanstalt. Es war später.«

»Später? Aber Sie haben doch im Ausland gelebt? Ich war nie außerhalb Deutschlands. Nur in den letzten zwei Jahren hier in Paris. Vielleicht, daß wir im Suff...«

»Nein. Nicht im Suff. Und nicht hier. In Deutschland, Haake!«

Eine Barriere. Eisenbahnschienen. Ein Garten, klein, gedrängt voll mit Rosen, Flox und Sonnenblumen. Warten. Ein verlorener, schwarzer Zug, puffend durch den endlosen Morgen. Spiegelnd in der Windschutzscheibe leben die Augen, die quallig im Kofferraum sich mit herabfallendem Staub aus den Ritzen füllten.

»In Deutschland? Ah, ich verstehe. Auf einem der Parteitage. Nürnberg. Glaube, mich zu erinnern. War es nicht im Nürnberger Hof?«

»Nein, Haake«, sagte Ravic langsam in die Windschutzscheibe hinein, und er fühlte, wie die schwere Welle der Jahre zurück, kam. »Nicht in Nürnberg. In Berlin.«

»Berlin?« Das Schattengesicht, durchzittert von Reflexen, wurde eine Spur jovial ungeduldig. »Na, nun kommen Sie schon heraus, Mensch, mit der Geschichte! Halten Sie nicht hinter dem Berg, und spannen Sie mich nicht zu lange auf die Folter. Wo war es?«

Die Welle, in den Armen jetzt, aus der Erde hochsteigend. »Auf der Folter, Haake! Genau das! Auf der Folter!«

Ein Lachen, ungewiß, vorsichtig. »Machen Sie keine Witze, Mann.«

»Auf der Folter, Haake! Weißt du nun, wer ich bin?«

Das Lachen, Ungewisser, vorsichtiger, drohend. »Wie soll ich das wissen? Ich sehe Tausende von Menschen. Kann mir nicht jeden einzelnen merken. Wenn Sie auf die Geheime Staatspolizei anspielen...«

»Ja, Haake. Die Gestapo.«

Achselzucken. Lauern. »Wenn Sie da einmal vernommen worden sind...«

»Ja. Erinnerst du dich?«

Erneutes Achselzucken. »Wie soll ich mich erinnern? Wir haben Tausende vernommen...«

»Vernommen! Gequält, geschlagen bis zur Bewußtlosigkeit, Nieren zerquetscht, Knochen zerbrochen, wie Säcke in den Keller geworfen, wieder hervorgeholt, Gesichter zerrissen, Hoden zermalmt — das nennt ihr ›vernommen‹! Das heiße, entsetzliche Stöhnen derer, die nicht mehr schreien konnten — ›Vernommen‹! Das Winseln zwischen Ohnmacht und Ohnmacht, Fußtritte in den Bauch, Gummiknüppel, Peitschen — ja, alles das nanntet ihr unschuldig ›Vernommen‹!«

Ravic starrte in das unsichtbare Gesicht in der Windschutzscheibe, durch das lautlos die Landschaft mit Korn und Mohn und Heckenrosen glitt — er starrte hinein, seine Lippen bewegten sich, und er sagte alles, was er hatte sagen wollen und einmal sagen mußte.

»Die Hände ruhig! Oder ich schieße dich nieder! Erinnerst du dich an den kleinen Max Rosenberg, der mit zerfetztem Körper im Keller neben mir lag und versuchte, sich den Kopf an der Zementwand zu zerschlagen, um nicht wieder ›vernommen‹ zu werden — vernommen warum? Weil er ein Demokrat war! Und Willmann, der Blut pißte und keine Zähne und nur noch ein Auge hatte, nachdem er zwei Stunden bei euch ›vernommen‹ worden war — vernommen warum? Weil er ein Katholik war und nicht glaubte, daß euer Führer der neue Messias sei. Und Riesenfeld, dessen Kopf und Rücken rohen Fleischklumpen glichen, und der uns anflehte, ihm die Adern aufzubeißen, weil er es nicht mehr konnte ohne Zähne, nachdem er ›vernommen‹ war von dir — vernommen warum? Weil er gegen den Krieg war und nicht glaubte, daß Kultur sich am vollkommensten in Bomben und Flammenwerfern ausdrücke. Vernommen! Tausende habt ihr ›vernommen‹, ja — die Hände ruhig, Schwein! Und jetzt habe ich dich endlich, und wir fahren hinaus, da ist ein Haus mit dicken Mauern und völlig allein, und ich werde dich ›vernehmen‹ — langsam, langsam durch Tage hindurch, die Rosenbergkur, die Willmannkur, die Riesenfeldkur, so, wie ihr es uns gezeigt habt! Und dann, nach all dem...«

Ravic spürte plötzlich, daß der Wagen raste. Er nahm das Gas weg. Häuser. Ein Dorf. Hunde. Hühner. Pferde auf einer Weide, galoppierend, die Hälse gestreckt, die Köpfe hochgeworfen, heidnisch. Zentauren, kraftvolles Leben. Eine lachende Frau mit einem Wäschekorb. Auf den Leinen flatternd bunte Wäschestücke, Fahnen geborgenen Glücks. Ein paar Kinder spielend vor den Türen. Er sah das alles wie getrennt durch eine gläserne Wand, sehr nah und unglaublich fern, voll von Schönheit und Frieden und Unschuld, schmerzhaft stark und getrennt von ihm und unerreichbar für immer, nur durch diese Nacht. Er spürte kein Bedauern — es war so, das war alles.

Langsam fahren. Die einzige Gelegenheit, angehalten zu werden, die Dörfer zu durchrasen. Die Uhr. Er fuhr schon fast zwei Stunden. Wie war das möglich? Er hatte es nicht gemerkt. Er hatte nichts gesehen, nur das Gesicht, gegen das er sprach...

St. Germain. Der Park. Schwarze Gitter vor dem blauen Himmel und dann die Bäume. Bäume. Alleen von Bäumen. Ein Park von Bäumen, erwartet, erwünscht, und plötzlich der Wald.

Der Wagen lief leiser. Der Wald hob sich, eine grüne und goldene Woge, er warf sich rechts und links auf, er überflutete den Horizont und schloß alles ein — auch das schnelle, glitzernde Insekt, das in ihm zickzackte.

Der Grund war weich und mit Gebüsch überwuchert. Es war weitab von der Straße. Ravic ließ den Wagen einige hundert Meter entfernt stehen, so daß er ihn sehen konnte. Dann nahm er den Spaten und begann den Grund aufzuschaufeln. Es ging leicht. Wenn jemand kam und den Wagen sah, konnte er den Spaten verbergen und als harmloser Spaziergänger zurückkommen.

Er grub tief genug, um genügend Erde über dem Körper zu haben. Dann fuhr er den Wagen heran. Ein toter Körper war schwer. Trotzdem fuhr er nur so weit heran, wie harter Grund war, um keine Reifenspuren zu hinterlassen.

Der Körper war noch schlaff. Er schleppte ihn zu dem Erdloch und begann, die Kleider abzureißen und auf einen Haufen zu werfen. Es war einfacher, als er dachte. Er ließ den nackten Körper liegen, nahm die Kleider, steckte sie in den Kofferraum und fuhr den Wagen zurück. Er schloß die Türen und den Kofferraum ab und nahm einen Hammer mit. Er mußte damit rechnen, daß der Körper durch Zufall gefunden wurde, und er wollte jede Identifi kation vermeiden.

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