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Joan hockte am Fußende des Bettes. Sie sah aus wie eine ärgerliche, schöne Waschfrau- und gleichzeitig wie etwas, das vom Mond hergeflogen war und sich nicht zurechtfinden konnte. Die Dämmerung war in Frührot übergegangen und strahlte sie an. Der junge Tag hauchte von weit her seinen reinen Atem über die dreckigen Höfe und die rauchigen Dächer in das Fenster, und es war immer noch Wald und Leben darin.

»Joan«, sagte Ravic. »Weshalb bist du gekommen?«

»Weshalb fragst du?«

»Ja — weshalb frage ich?«

»Weshalb fragst du immer? Ich bin da. Ist das denn nicht genug?«

»Ja, Joan, du hast recht. Es ist genug.«

Sie hob den Kopf. »Endlich! Aber erst muß du einem die ganze Freude nehmen.«

Freude! Freude nannte sie das! Getrieben sein von vielen schwarzen Propellern, in einer Luft schraube von atemlosem Wiederhabenwollen — Freude? Da draußen, das war ein Augenblick der Freude, der Tau vor den Fenstern, die zehn Minuten Stille, bevor der Tag seine Klauen ausstreckte. Aber zum Teufel, was sollte das alles? Hatte sie nicht recht? Hatte sie nicht recht wie der Tau und die Sperlinge und der Wind und das Blut? Wozu fragte er? Was wollte er wissen? Sie war da, herangeflogen, bedenkenlos, ein Nachtschmetterling, ein Ligusterschwärmer, ein Pfauenauge, rasch — und nun lag er da und zählte die Punkte und die schmalen Risse an seinen Flügeln und starrte auf den etwas verwischten Schmelz. Sie war gekommen, und ich bin nur so albern überlegen, weil sie gekommen ist, dachte er. Wäre sie nicht gekommen, dann würde ich hier liegen und grübeln und versuchen, mich heroisch zu beschwindeln und dabei heimlich nichts anderes wünschen, als daß sie käme.

Er warf die Decken beiseite, schwang die Füße über den Bettrand und fuhr in seine Slipper. »Was willst du?« fragte Joan überrascht. »Willst du mich hinauswerfen?«

»Nein. Ich will dich küssen. Ich hätte es längst tun sollen. Ich bin ein Idiot, Joan. Ich habe Unsinn geredet. Es ist wunderbar, daß du da bist!«

Ein Schein ging durch ihre Augen. »Du brauchst nicht aufzustehen, um mich zu küssen«, sagte sie.

Das Morgenrot stand hoch hinter den Häusern. Der Himmel darüber war schwach und blau. Ein paar Wolken schwammen darin wie schlafende Flamingos. »Sieh dir das an, Joan! Welch ein Tag! Weißt du noch, wie es regnete?«

»Ja. Es regnete immer, Liebster. Es war grau, und es regnete.«

»Es regnete noch, als ich abfuhr. Du verzweifeltest unter all dem Regen. Und jetzt...«

»Ja«, sagte sie. »Und jetzt...«

Sie lag dicht neben ihm. »Jetzt ist alles da«, sagte er. »Sogar ein Garten. Die Nelken unten vor dem Fenster des Emigranten Wiesenhoff. Und Vögel im Hof in der Kastanie.«

Er sah, daß sie weinte. »Warum fragst du mich nicht, Ravic?« sagte sie.

»Ich fragte dich schon zuviel. Hast du das vorhin nicht selbst gesagt?«

»Dies ist anders.«

»Es ist nichts zu fragen.«

»Was inzwischen gewesen ist.«

»Es ist nichts gewesen.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wofür hältst du mich, Joan?« sagte er. »Sieh dir das da draußen an. Das Rot und Gold und Blau. Fragt das, ob es gestern geregnet hat? Ob Krieg in China oder Spanien war? Ob in diesem Augenblick tausend Menschen sterben oder tausend Menschen geboren werden? Es ist da, es steigt auf, das ist alles. Und du willst, daß ich frage? Deine Schultern sind Bronze unter diesem Licht, und ich soll dich fragen? Deine Augen sind in diesem roten Widerschein wie das Meer der Griechen, violett und weinfarben, und ich soll etwas wissen wollen, was vorbei ist? Du bist da, und ich soll ein Narr sein und im abgewelkten Laub der Vergangenheit herumsuchen wollen? Wofür hältst du mich, Joan?«

Ihre Tränen hatten aufgehört. »Ich habe das lange nicht mehr gehört«, sagte sie.

»Dann warst du unter Holzköpfen. Frauen soll man anbeten oder verlassen. Nichts dazwischen.«

Sie schlief, dicht an ihn geklammert, als wollte sie ihn nie mehr loslassen. Sie schlief tief, und er fühlte ihren leichten, regelmäßigen Atem auf seiner Brust. Er lag noch eine Zeitlang wach. Die Geräusche des Morgens begannen im Hotel. Wasserleitungen rauschten, Türen klappten, und unten hustete der Emigrant Wiesenhoff sein Erwachen aus dem Fenster. Er fühlte Joans Schultern an seinem Arm, er fühlte ihre warme, schlummernde Haut, und wenn er den Kopf wendete, konnte er ihr völlig gelöstes, hingebendes Gesicht sehen, das rein war wie die Unschuld selbst. Anbeten oder verlassen, dachte er. Große Worte. Wer das könnte! Aber wer wollte es auch schon?

20

Er erwachte. Joan lag nicht mehr neben ihm. Er hörte das Wasser im Badezimmer rauschen und richtete sich auf. Er war sofort ganz wach. Die letzten Monate hatten ihn das wieder gelehrt. Wer sofort wach war, konnte manchmal noch entkommen. Er sah auf die Uhr. Es war zehn Uhr früh. Joans Abendkleid lag mit ihrem Mantel auf dem Boden. Ihre Brokatschuhe standen vor dem Fenster. Einer war umgefallen.

»Joan«, rief er. »Was machst du unter der Brause mitten in der Nacht?«

Sie öffnete die Tür. »Ich wollte dich nicht wecken.« »Das ist gleichgültig. Ich kann immer schlafen. Aber wozu bist du schon auf?«

Sie hatte eine Badekappe übergezogen und tropfte vor Wasser. Ihre Schultern schimmerten hellbraun. Sie sah aus wie eine Amazone mit einem eng anliegenden Helm. »Ich bin keine Nachteule mehr. Ravic. Ich bin nicht mehr in der Scheherazade.«

»Das weiß ich.« »Von wem?«

»Von Morosow.«

Sie sah ihn eine Sekunde forschend an. »Morosow«, sagte sie. »Der alte Schwätzer. Was hat er dir sonst erzählt?«

»Nichts. Gibt es sonst noch etwas zu erzählen?«

»Nichts, was ein Nachtportier erzählen könnte. Die sind wie Garderobefrauen. Gewerbsmäßige Klatsch Vermittler.«

»Laß Morosow in Frieden. Nachtportiers und Ärzte sind gewerbsmäßige Pessimisten. Sie leben von den Schattenseiten des Lebens. Aber sie klatschen nicht. Sie sind verpflichtet zur Diskretion.«

»Schattenseite des Lebens«, sagte Joan. »Wer will das schon?«

»Keiner. Aber die meisten leben darin. Morosow hat dir übrigens damals die Stelle in der Scheherazade besorgt.«

»Dafür kann ich ihm nicht ewig unter Tränen dankbar sein. Ich war keine Enttäuschung. Ich war mein Geld wert, sonst hätten sie mich nicht behalten. Er hat es außerdem für dich getan. Nicht für mich.«

Ravic griff nach einer Zigarette. »Was hast du eigentlich gegen ihn?«

»Nichts. Ich mag ihn nicht. Er sieht einen immer so an. Ich würde ihm nicht trauen, Du solltest es auch nicht.«

»Was?«

»Du solltest ihm nicht trauen. Du weißt, Portiers in Frankreich sind alle Polizeispitzel.«

»Sonst noch was?« fragte Ravic ruhig.

»Du glaubst mir natürlich nicht. Jeder in der Scheherazade wußte es. Wer weiß, ob...«

»Joan!« Er warf die Decke zurück und stand auf. »Rede keinen Unsinn. Was ist los mit dir?«

»Nichts. Was soll mit mir los sein? Ich kann ihn nicht leiden, das ist alles. Er hat einen schlechten Einfluß. Und du steckst dauernd mit ihm zusammen.«

»Ach so«, sagte Ravic. »Deshalb.«

Sie lächelte plötzlich. »Ja, deshalb.«

Ravic spürte, daß es nicht allein deshalb war. Da war noch etwas anderes. »Was willst du zum Frühstück haben?« fragte er.

»Bist du ärgerlich?« fragte sie zurück.

»Nein.«

Sie kam aus dem Badezimmer und legte die Arme um seinen Nacken. Er fühlte die Feuchtigkeit ihrer Haut durch den dünnen Stoff seines Pyjamas. Er fühlte den Körper, und er fühlte sein Blut. »Bist du ärgerlich, weil ich eifersüchtig auf deine Freunde bin?« fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. Ein Helm. Eine Amazone. Eine Najade, dem Ozean entstiegen, den Geruch von Wasser und Jugend noch auf der glatten Haut. »Laß mich los«, sagte er.

Sie antwortete nicht. Die Linie von den hohen Wangenknochen zum Kinn. Der Mund. Die zu schweren Augenlider. Die Brüste, die sich gegen seine nackte Haut unter der offenen Pyjamajacke drängten. »Laß mich los, oder...«

61
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