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Ravic blieb vor ihr stehen. »Den Mantel werden wir aber ausziehen«, sagte er. »Er ist naß genug. Und die Mütze geben Sie auch einmal her.«

Sie gab ihm beides. Er legte das Kissen in die Ecke des Sofas. »Das ist für den Kopf. Der Stuhl hier, damit Sie nicht fallen, wenn Sie schlafen.« Er schob ihn gegen das Sofa. »Und nun noch die Schuhe. Klatschnaß natürlich. Gut für Erkältungen.« Er streifte sie ihr von den Füßen, holte aus der Schublade ein paar kurze, wollene Strümpfe und zog sie ihr über. »So, jetzt geht es einigermaßen. In kritischen Zeiten soll man auf etwas Komfort sehen. Altes Soldatengesetz.«

»Danke«, sagte die Frau. »Danke.«

Ravic ging ins Badezimmer und drehte die Hähne auf. Das Wasser schoß in das Waschbecken. Er löste seine Krawatte und betrachtete sich abwesend im Spiegel. Prüfende Augen, die tief in den Schatten der Höhlen saßen; ein schmales Gesicht, todmüde, wenn die Augen nicht gewesen wären; Lippen, die zu weich waren für die Furchen, die von der Nase zum Mund heruntergerissen waren — und über dem rechten Auge, zackig ins Haar verlaufend, die lange Narbe.

Das Telefon klirrte in seine Gedanken. »Verdammt!« Er hatte eine Sekunde alles vergessen gehabt. Es gab solche Augenblicke des Versinkens. Da war ja noch die Frau nebenan.

»Ich komme«, rief er.

»Erschrocken?« Er hob den Hörer ab. »Was? Ja. Gut... ja... natürlich, ja... es wird gehen... ja. Wo? Gut, ich komme sofort. Heißen Kaffee, starken Kaffee... ja...«

Er legte den Hörer sehr behutsam zurück und blieb ein paar Sekunden nachdenklich auf der Sofalehne sitzen. »Ich muß fort«, sagte er dann. »Eilig.«

Die Frau stand sofort auf. Sie schwankte etwas und stützte sich auf den Stuhl.

»Nein, nein...« Ravic war einen Moment gerührt von dieser gehorsamen Bereitwilligkeit. »Sie können hierbleiben. Schlafen Sie. Ich muß weg für ein, zwei Stunden; ich weiß nicht, wie lange. Bleiben Sie nur hier.« Er zog seinen Mantel an. Flüchtig kam ihm ein Gedanke. Er vergaß ihn sofort. Die Frau würde nicht stehlen. Sie war nicht der Typ. Den kannte er zu gut. Es war auch nicht viel da zu stehlen.

Er war schon an der Tür, als die Frau fragte: »Kann ich mitgehen?«

»Nein, unmöglich. Bleiben Sie hier. Nehmen Sie, was Sie noch brauchen. Das Bett auch, wenn Sie wollen. Kognak steht drüben. Schlafen Sie...«

Er wandte sich um. »Lassen Sie das Licht brennen«, sagte die Frau plötzlich und schnell.

Ravic ließ die Klinke los.

»Angst?« fragte er.

Sie nickte.

Er zeigte auf den Schlüssel. »Schließen Sie die Tür hinter mir ab. Ziehen Sie den Schlüssel heraus. Unten ist noch ein zweiter Schlüssel, mit dem ich hereinkommen kann.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht. Aber bitte, lassen Sie das Licht brennen.«

»Ach so!« Ravic sah sie prüfend an. »Ich wollte es sowieso nicht auslöschen. Lassen Sie es nur brennen. Ich kenne das. Habe auch mal solche Zeiten gehabt.«

An der Ecke der Rue des Acacias kam ihm ein Taxi entgegen. »Fahren Sie vierzehn Rue Lauriston. — Rasch!«

Der Chauffeur drehte um und bog in die Avenue Carnot ein. Als er die Avenue le La Grande Armée kreuzte, schoß von rechts ein kleiner Zweisitzer heran. Die beiden Wagen wären zusammengestoßen, wenn die Straße nicht naß und glatt gewesen wäre. So schleuderte der Zweisitzer beim Bremsen zur Mitte der Straße hinüber, gerade an dem Kühler der Droschke vorbei. Der leichte Wagen drehte sich wie ein Karussell. Es war ein kleiner Renault, in dem ein Mann saß, der eine Brille und einen schwarzen, steifen Hut trug. Bei jeder Drehung sah man einen Augenblick sein weißes entrüstetes Gesicht. Dann fing sich der Wagen und hielt auf den Arc am Ende der Straße zu, wie auf das riesige Tor des Hades — ein kleines, grünes Insekt, aus dem eine blasse Faust in den Nachthimmel drohte.

Der Taxichauffeur drehte sich um. »Haben Sie so was schon mal gesehen?«

»Ja«, sagte Ravic.

»Aber mit so einem Hut. Was hat einer mit so einem Hut nachts so schnell zu fahren?«

»Er hatte recht. Er war auf der Hauptstraße. Wozu schimpfen Sie?«

»Natürlich hatte er recht. Darum schimpfe ich ja gerade.« — »Was würden Sie denn tun, wenn er unrecht hätte?« »Dann würde ich auch schimpfen.« »Sie scheinen sich das Leben bequem zu machen.« »Ich würde anders schimpfen«, erklärte der Chauffeur und bog in die Avenue Foch ein. »Nicht so erstaunt, verstehen Sie?«

»Nein. Fahren Sie langsamer an den Kreuzungen.«

»Das wollte ich sowieso. Verdammte Schmiere auf der Straße. Aber weshalb fragen Sie mich eigentlich, wenn Sie nachher nichts hören wollen?«

»Weil ich müde bin«, erwiderte Ravic ungeduldig. »Weil es Nacht ist. Meinetwegen auch, weil wir Funken in einem unbekannten Wind sind. Fahren Sie zu.«

»Das ist etwas anderes.« Der Chauffeur tippte mit einer gewissen Hochachtung an seine Mütze. »Das verstehe ich.«

»Hören Sie«, sagte Ravic, dem ein Verdacht kam. »Sind Sie Russe?«

»Nein. Lese aber allerlei, wenn ich auf Kunden warte.« Mit Russen habe ich heute kein Glück, dachte Ravic. Er lehnte den Kopf zurück. Kaffee, dachte er. Sehr heißen, schwarzen Kaffee. Hoffentlich haben sie genug. Meine Hände müssen verdammt ruhig sein.Wenn es nicht anders geht, muß Veber mir eine Spritze machen. Aber es wird gehen. Er drehte die Fenster herunter und atmete langsam und tief die feuchte Luft ein.

2

Der kleine Operationsraum war taghell erleuchtet. Er sah aus wie eine hygienische Metzgerei. Eimer mit blutgetränkter Watte standen herum, Verbände und Tupfer lagen zerstreut, und das Rot schrie festlich gegen das viele Weiß. Veber saß im Vorraum an einem lackierten Stahltisch und machte Notizen; eine Schwester kochte die Instrumente aus; das Wasser brodelte, das Licht schien zu zischen, und nur der Körper auf dem Tisch lag ganz für sich selbst da — ihn ging das alles nichts mehr an.

Ravic ließ die flüssige Seife über seine Hände rinnen und begann sich zu waschen. Er wusch sich mit ärgerlicher Verbissenheit, als wolle er sich die Haut herunterscheuem. »Scheiße!« murmelte er vor sich hin. »Verdammte, verfluchte Scheiße!«

Die Operationsschwester sah ihn angewidert an. Veber blickte auf. »Ruhig, Eugenie! Alle Chirurgen fluchen. Besonders, wenn etwas schiefgegangen ist. Sie sollten daran gewöhnt sein.«

Die Schwester warf eine Handvoll Instrumente in das kochende Wasser. »Professor Perrier fluchte nie«, erklärte sie beleidigt. »Und er rettete trotzdem viele Menschen.«

»Professor Perrier war ein Spezialist für Gehirnoperationen. Subtilste Feinmechanik, Eugenie. Wir schneiden in Bäuchen herum. Das ist etwas anderes.« Veber klappte seine Eintragungen zu und stand auf. »Sie haben gut gearbeitet, Ravic. Aber gegen Pfuscher kann man schließlich nichts machen.«

»Doch — manchmal kann man.« Ravic trocknete sich die Hände ab und zündete sich eine Zigarette an. Die Schwester öffnete in schweigender Mißbilligung ein Fenster. — »Bravo, Eugenie«, lobte Veber. »Immer nach der Vorschrift .«

»Ich habe Pflichten im Leben. Ich möchte nicht gern in die Luft fliegen.«

»Das ist schön, Eugenie. Und beruhigend.«

»Manche haben eben keine. Und wollen keine haben.«

»Das geht auf Sie, Ravic!« Veber lachte. »Besser, wir verschwinden. Eugenie ist morgens sehr aggressiv. Hier ist sowieso nichts mehr zu tun.«

Ravic sah sich um. Er sah die Schwester mit den Pflichten an. Sie erwiderte furchtlos seinen Blick. Die Brille mit dem Nickelrand gab ihrem kahlen Gesicht etwas Unantastbares. Sie war ein Mensch wie er, aber sie war ihm fremder als ein Baum. »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Sie haben recht.«

Auf dem weißen Tisch lag das, was vor ein paar Stunden noch Hoffnung, Atem, Schmerz und zitterndes Leben gewesen war. Jetzt war es nur noch ein sinnloser Kadaver — und der menschliche Automat, Schwester Eugenie genannt, der stolz darauf war, nie einen Fehltritt begangen zu haben, deckte es zu und karrte es fort. Sie sind die ewig Überlebenden, dachte Ravic, das Licht liebt sie nicht, diese Holzseelen, deshalb vergißt es sie und läßt sie lange leben.

3
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