»Ja.«
Morosow legte seinen Arm um den Kübel der dürftigen Palme. Sie schwankte leicht. »Leben heißt, von andern leben. Wir fressen alle voneinander. So ein bißchen Flimmern von Güte ab und zu — das soll man sich nicht nehmen lassen. Es stärkt, wenn man schwierig lebt.«
»Gut. Ich werde morgen mal nachfragen bei ihr.«
»Schön«, sagte Morosow. »Das war es, was ich meinte. Und nun laß das viele Reden. Wer
hat Weiß?«
5
Der Wirt kannte Ravic gleich wieder. »Die Dame ist in ihrem Zimmer«, sagte er.
»Können Sie ihr telefonieren, daß ich hier bin?«
»Das Zimmer hat kein Telefon. Sie können ruhig hinaufgehen.« »Welche Nummer ist es?«
»Siebenundzwanzig.«
»Ich habe den Namen nicht mehr im Kopf. Wie hieß sie doch?« Der Wirt zeigte kein Erstaunen. »Madou. Joan Madou«, fügte er hinzu. »Glaube nicht, daß sie wirklich so heißt. Künstlername wahrscheinlich.«
»Wieso Künstlername?«
»Sie hat sich als Schauspielerin eingetragen. Klingt doch so, wie?«
»Das weiß ich nicht. Ich kannte einen Schauspieler, der nannte sich Gustav Schmidt. Er hieß in Wirklichkeit Alexander Marie Graf von Zambona. Gustav Schmidt war sein Künstlername. Klang gar nicht so, wie?«
Der Wirt gab sich nicht geschlagen. »Heutzutage passiert viel«, erklärte er.
»Es passiert gar nicht einmal so viel. Wenn Sie Geschichte studieren, werden Sie finden, daß wir noch in verhältnismäßig ruhigen Zeiten leben.«
»Danke, mir genügt’s.«
»Mir auch. Aber man muß seinen Trost suchen, wo man kann. Nummer siebenundzwanzig, sagten Sie?«
»Ja, mein Herr.«
Ravic klopfte. Niemand antwortete. Er klopfte noch einmal und hörte eine undeutliche Stimme. Als er die Tür öffnete, sah er die Frau. Sie saß auf dem Bett, das an der Querwand stand, und blickte langsam auf. Sie war angezogen und trug das blaue Schneiderkostüm, in dem Ravic sie zum ersten Male gesehen hatte. Sie hätte weniger verlassen gewirkt, wenn sie vernachlässigt, in irgendeinem Schlafrock herumgelegen hätte. Aber so, angezogen für niemand und nichts, aus einer Gewohnheit heraus, die jetzt nichts mehr bedeutete, hatte sie etwas, daß Ravic einen Schlag aufs Herz gab. Er kannte das — er hatte Hunderte von Menschen so sitzen sehen, Emigranten, verschlagen in fremdeste Fremde. Eine kleine Insel ungewissen Daseins — so saßen sie da und wußten nicht wohin — und nur die Gewohnheit erhielt sie am Leben.
Er zog die Tür hinter sich zu. »Ich hoffe, ich störe Sie nicht«, sagte er und empfand sofort, wie sinnlos das war. Was konnte die Frau schon stören? Da war nichts, was sie noch stören konnte.
Er legte seinen Hut auf einen Stuhl. »Konnten Sie alles erledigen?« fragte er.
»Ja. Es war nicht viel.«
»Keine Schwierigkeiten?«
»Nein.«
Ravic setzte sich in den einzigen Sessel des Zimmers.
Die Sprungfedern knarrten, und er fühlte, daß eine zerbrochen war.
»Wollten Sie fortgehen?« fragte er.
»Ja. Irgendwann. Später. Nirgendwohin — nur so. Was soll man sonst tun?«
»Nichts. Es ist richtig; für ein paar Tage. Kennen Sie niemand in Paris?«
»Nein.«
»Niemand?«
Die Frau hob mit einer müden Bewegung den Kopf. »Niemand — außer Ihnen, den Wirt, den Kellner und das Zimmermädchen.« Sie lächelte trübe. »Das ist nicht viel, wie?«
»Nein. Kannte...« Ravic suchte nach dem Namen des toten Mannes. Er hatte ihn vergessen.
»Nein«, sagte die Frau. »Raczinsky hatte keine Bekannten hier, oder ich habe sie nie gesehen. Er wurde gleich krank, als wir hier ankamen.«
Ravic hatte nicht lange bleiben wollen. Jetzt, als er die Frau so dasitzen sah, änderte er seine Absicht. »Haben Sie schon zu Abend gegessen?«
»Nein. Ich bin auch nicht hungrig.«
»Haben Sie heute überhaupt schon etwas gegessen?«
»Ja. Heute mittag. Tagsüber ist das einfacher. Abends...« — Ravic blickte sich um. Das kleine, kahle Zimmer roch nach Trostlosigkeit und November. »Es wird Zeit, daß Sie hier herauskommen«, sagte er. »Kommen Sie.Wir werden zusammen essen gehen.«
Er hatte erwartet, daß die Frau Einwendungen machen würde. Sie schien so gleichgültig, als könne sie sich zu nichts mehr aufraffen. Aber sie stand gleich auf und griff nach ihrem Regenmantel.
»Das da ist nicht genug«, sagte er. »Der Mantel ist viel zu dünn. Haben Sie keinen wärmeren? Es ist kalt draußen.«
»Es regnete vorhin...«
»Es regnet immer noch. Aber es ist kalt. Können Sie nicht etwas darunter anziehen. Einen anderen Mantel oder wenigstens einen Sweater?«
»Ich habe einen Sweater.«
Sie ging zu dem größeren Koffer. Ravic sah, daß sie fast nichts ausgepackt hatte. Sie holte einen schwarzen Sweater aus dem Koffer, zog die Jacke aus und streifte ihn über. Sie hatte gerade und schöne Schultern. Dann nahm sie die Baskenmütze und zog die Jacke und den Mantel an. »Ist es so besser?«
»Viel besser.«
Sie gingen die Treppe hinunter. Der Wirt war nicht mehr da. Statt dessen saß der Concierge neben dem Schlüsselbrett. Er sortierte Briefe und roch nach Knoblauch. Neben ihm saß regungslos eine gefleckte Katze und sah ihm zu.
»Haben Sie immer noch das Gefühl, daß Sie nichts essen können?« fragte Ravic draußen.
»Ich weiß es nicht. Nicht viel, glaube ich.«
Ravic winkte ein Taxi heran. »Gut. Dann werden wir in die ›Belle Aurore‹ fahren. Da braucht man kein langes Diner zu essen.«
Die »Belle Aurore« war nicht sehr besetzt. Es war schon zu spät dafür. Sie fanden einen Tisch in dem schmalen, oberen Raum mit der niedrigen Decke. Außer ihnen war nur noch ein Paar da, das am Fenster saß und Käse aß, und ein einzelner, dünner Mann, der einen Berg Austern vor sich hatte. Der Kellner kam und besah das gewürfelte Tischtuch kritisch. Dann entschloß er sich, es zu wechseln.
»Zwei Wodkas«, bestellte Ravic. »Kalt.«
»Wir werden etwas trinken und Vorspeisen essen«, sagte er zu der Frau. »Ich glaube, das ist das richtige für Sie. Dies ist ein Restaurant für Hors d’œuvres. Es gibt kaum etwas anderes hier. Jedenfalls kommt man fast nie dazu, etwas anderes zu essen. Es gibt Dutzende, warme und kalte, und alle sind sehr gut; wir werden es einmal versuchen.«
Der Kellner brachte den Wodka und holte einen Notizblock heraus. »Eine Karaffe Vin rosé«, sagte Ravic. »Haben Sie Anjou?«
»Anjou, offen, rosé, sehr wohl, mein Herr.«
»Gut. Eine große Karaffe in Eis. Und die Vorspeisen.«
Der Kellner ging. Er stieß an der Tür fast zusammen mit einer Frau in einem roten Federhut, die rasch die Treppe heraufkam. Sie schob ihn beiseite und ging auf den dünnen Mann mit den Austern zu. »Albert«, sagte sie. »Du Schwein...«
»Tsk, tsk«, machte Albert und sah sich um.
»Nicht tsk, tsk!« Die Frau legte ihren nassen Regenschirm quer über den Tisch und setzte sich entschlossen.
Albert schien nicht überrascht zu sein. »Chérie«, sagte er und begann zu flüstern.
Ravic lächelte und hob sein Glas. »Wir wollen das hier einmal auf einen Schluck austrinken. Salute.«
»Salute«, sagte Joan Madou und trank.
Die Vorspeisen wurden auf kleinen Wagen herbeigerollt. »Was möchten Sie?« Ravic sah die Frau an. »Ich glaube, das einfachste ist, ich stelle Ihnen etwas zusammen.«
Er häufte einen Teller voll und gab ihn ihr hinüber. »Es macht nichts, wenn Ihnen davon nichts schmeckt. Es kommen noch ein paar andere Wagen. Dies ist nur der Anfang.«
Er füllte sich selbst einen Teller und begann zu essen, ohne sich um sie weiter zu kümmern. Er spürte plötzlich, daß auch sie aß. Er schälte eine Langustine und hielt sie ihr hinüber. »Probieren Sie das einmal. Besser als Langusten. Und nun die Paté Maison. Mit einer Kruste von dem weißen Brot dazu. So, das geht ja ganz gut. Und jetzt etwas von dem Wein. Leicht, herbe und kühl.«
»Sie machen sich viel Mühe mit mir«, sagte die Frau.
»Ja, wie ein Oberkellner.« Ravic lachte.