Литмир - Электронная Библиотека
Содержание  
A
A

Er drehte die Dusche an. Das kühle Wasser strömte über seine Haut. Er atmete tief und trocknete sich ab. Der Trost der kleinen Dinge. Wasser, Atem, abendlicher Regen. Nur wer allein war, kannte auch sie. Dankbare Haut. Leichtes, in den dunklen Kanälen hinschießendes Blut. Auf einer Wiese zu liegen. Birken. Weiße Sommerwolken. Der Himmel der Jugend. Wo waren die Abenteuer des Herzens geblieben? Erschlagen von den finsteren Abenteuern des Daseins.

Er ging in das Zimmer zurück. Die Frau hockte in der Ecke des Sofas, die Decke hoch um sich gezogen.

»Kalt?« fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

»Angst?«

Sie nickte.

»Vor mir?«

»Nein.«

»Vor draußen?«

»Ja.«

Ravic schloß das Fenster. — »Danke«, sagte sie.

Er sah auf den Nacken vor sich. Schultern. Etwas, das atmete. Ein bißchen fremdes Leben — aber Leben. Wärme. Kein erstarrender Körper. Was konnte man sich schon anderes geben als etwas Wärme? Und was war mehr?

Die Frau bewegte sich. Sie zitterte. Sie sah Ravic an. Er spürte, wie die Welle zurückebbte. Die tiefe Kühle ohne Schwere kam. Die Spannung war vorüber. Die Weite kam. Es war, als würde er von einer Nacht auf einem fremden Planeten zurückgenommen. Alles wurde plötzlich einfach, der Morgen, die Frau — es war nichts mehr zu denken.

»Komm«, sagte er.

Sie starrte ihn an.

»Komm«, sagte er ungeduldig.

3

Er wachte auf. Er hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Die Frau war angezogen und saß auf dem Sofa. Aber sie sah ihn nicht an; sie blickte aus dem Fenster. Er hatte erwartet, sie würde längst fort sein. Es war ihm unbequem, daß sie noch da war. Er konnte morgens keine Menschen um sich leiden.

Er überlegte, ob er versuchen sollte, weiterzuschlafen; aber es störte ihn, daß sie ihn beobachten konnte. Er beschloß, sie rasch loszuwerden. Wenn sie auf Geld wartete, war es sehr einfach. Es würde auch sonst einfach sein. Er richtete sich auf.

»Sind Sie schon lange auf?«

Die Frau erschrak und drehte sich um. »Ich konnte nicht mehr schlafen. Es tut mir leid, wenn ich Sie geweckt habe.«

»Sie haben mich nicht geweckt.«

Sie stand auf. »Ich wollte fortgehen. Ich weiß nicht, weshalb ich hier noch gesessen habe.«

»Warten Sie. Ich bin gleich fertig. Sie bekommen noch Ihr Frühstück. Den berühmten Kaffee des Hotels. So lange werden wir beide noch Zeit haben.«

Er stand auf und klingelte. Dann ging er ins Badezimmer. Er sah, daß die Frau es benutzt hatte; aber alles war wieder ordentlich gerichtet worden, sogar die gebrauchten Frotteetücher. Während er sich die Zähne putzte, hörte er das Mädchen mit dem Frühstück kommen.

Er beeilte sich.

»War es unangenehm?« fragte er, als er herauskam.

»Was?«

»Daß das Zimmermädchen Sie sah. Ich habe nicht daran gedacht.«

»Nein. Es war auch nicht überrascht.« Die Frau blickte auf das Tablett. Es war für zwei Personen, ohne daß Ravic etwas gesagt hätte.

»Sicher nicht. Dafür sind wir in Paris. Hier ist Ihr Kaffee. Haben Sie Kopfschmerzen?«

»Nein.«

»Gut. Ich habe welche. Aber das ist in einer Stunde vorbei. Hier sind Brioches.«

»Ich kann nichts essen.«

»Doch, Sie können. Sie glauben bloß, Sie könnten nicht. Versuchen Sie es nur.«

Sie nahm ein Brioche. Dann legte sie es wieder hin. »Ich kann wirklich nicht.«

»Dann trinken Sie den Kaffee und rauchen eine Zigarette. Das ist das Frühstück der Soldaten.«

»Ja.«

Ravic aß. »Sind Sie immer noch nicht hungrig?« fragte er nach einer Weile.

»Nein.«

Die Frau drückte ihre Zigarette aus. »Ich glaube...«, sagte sie und verstummte.

»Was glauben Sie?« fragte Ravic ohne Neugier.

»Ich sollte jetzt gehen.«

»Wissen Sie den Weg? Sie sind hier nahe der Avenue Wagram.«

»Nein.«

»Wo wohnen Sie?«

»Im Hotel Verdun.«

»Das ist wenige Minuten von hier. Ich kann es Ihnen zeigen, draußen. Ich werde Sie ohnehin am Portier vorbeibringen.«

»Ja... aber das ist es nicht...«

Sie schwieg wieder. Geld, dachte Ravic. Geld, wie immer. »Ich kann Ihnen leicht aushelfen, wenn Sie in Verlegenheit sind. « Er zog seine Brieftasche hervor.

»Lassen Sie das! Was soll das?« sagte die Frau schroff .

»Nichts.« Ravic steckte die Brieftasche wieder ein.

»Entschuldigen Sie...« Sie stand auf. »Sie waren... ich muß Ihnen danken... es wäre... die Nacht... ich hätte allein nicht gewußt...«

Ravic fiel ein, was geschehen war. Er hätte es lächerlich gefunden, wenn sie eine Angelegenheit daraus gemacht hätte — aber daß sie ihm dankte, hatte er nicht erwartet, und es war ihm viel unangenehmer.

»Ich hätte wirklich nicht gewußt«, sagte die Frau. Sie stand noch immer unschlüssig vor ihm. Weshalb geht sie nicht? dachte er.

»Aber jetzt wissen Sie...«, sagte er, um etwas zu sagen.

»Nein.« Sie sah ihn offen an. »Ich weiß es noch immer nicht. Ich weiß nur, daß ich etwas tun muß. Ich weiß, daß ich nicht weglaufen kann.«

»Das ist schon viel.« Ravic nahm seinen Mantel. »Ich werde Sie jetzt herunterbringen.«

»Das ist nicht nötig. Sagen Sie mir nur...« Sie zögerte und suchte nach Worten. »Vielleicht wissen Sie... was man tun muß... wenn...«

»Wenn?« fragte Ravic nach einer Weile.

»Wenn jemand gestorben ist«, stieß die Frau hervor und brach plötzlich zusammen. Sie weinte. Sie schluchzte nicht, sie weinte nur, fast ohne Laut.

Ravic wartete, bis sie ruhiger wurde. »Ist jemand gestorben?« Sie nickte. »Gestern abend?« Sie nickte wieder. »Haben Sie ihn getötet?« Die Frau starrte ihn an. »Was? Was sagen Sie da?« »Haben Sie es getan? Wenn Sie mich fragen, was Sie tun sollen, müssen Sie es mir sagen.« »Er ist gestorben!« schrie die Frau. »Plötzlich...« Sie verbarg ihr Gesicht. »War er krank?« fragte Ravic. »Ja.« »Hatten Sie einen Arzt?« »Ja... aber er wollte nicht ins Krankenhaus...«

»War der Arzt gestern da?«

»Nein. Vor drei Tagen. Er hat ihn... er schimpfte auf den Arzt und wollte ihn nicht mehr haben.«

»Hatten Sie keinen anderen danach?«

»Wir wußten keinen. Wir sind erst drei Wochen hier. Diesen hatte der Kellner uns besorgt... und er wollte ihn nicht mehr... er sagte... er glaubte, er könne es allein besser...«

»Was hat er gehabt?«

»Ich weiß es nicht. Der Arzt sagte Lungenentzündung... aber er glaubte es nicht... er sagte, alle Ärzte seien Betrüger... und es war auch besser gestern. Dann plötzlich...«

»Warum haben Sie ihn nicht in ein Hospital gebracht?«

»Er wollte nicht... er sagte... er... ich würde ihn betrügen, wenn er fort wäre... er... Sie kennen ihn nicht... es war nichts zu machen.«

»Liegt er noch im Hotel?«

»Ja.«

»Haben Sie dem Hotelbesitzer gemeldet, was geschehen ist?«

»Nein. Als er plötzlich still war... und alles so still... und seine Augen... da habe ich es nicht mehr ausgehalten und bin fortgelaufen.«

Ravic dachte an die Nacht. Er war einen Moment verlegen. Aber es war geschehen, und es war egal, für ihn und für die Frau. Besonders für die Frau. Es war alles egal für sie gewesen in dieser Nacht und nur das eine wichtig: daß sie überstand. Das Leben bestand aus mehr als aus sentimentalen Vergleichen. Die Nacht, als Lavigne gehört hatte, daß seine Frau tot war, hatte er im Hurenhaus verbracht. Die Huren hatten ihn gerettet; mit Priestern wäre er nicht durchgekommen. Wer das verstand, verstand es. Erklärungen dafür gab es nicht. Aber es gab Verpflichtungen dadurch.

Er nahm seinen Mantel. »Kommen Sie! Ich werde mit Ihnen gehen. War es Ihr Mann?«

»Nein«, sagte die Frau.

Der Patron des Hotels Verdun war dick. Er hatte kein Haar mehr auf dem Schädel, dafür aber einen gefärbten schwarzen Schnurrbart und schwarze, dichte Augenbrauen. Er stand im Eingangsraum, hinter ihm ein Kellner, ein Zimmermädchen und eine Kassiererin ohne Busen. Es war kein Zweifel, daß er bereits alles wußte. Er tobte auch sofort los, als er die Frau hereinkommen sah. Sein Gesicht verfärbte sich, er fuchtelte mit den fetten, kleinen Händen und strudelte Wut, Entrüstung und, wie Ravic sah, Erleichterung hervor. Als er bei Polizei, Fremden,Verdacht und Gefängnis war, unterbrach Ravic ihn.

6
{"b":"125277","o":1}