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»Das haben Sie mir bereits einmal gesagt. Ich werde schon noch ein Taxi bekommen.«

Ravic steckte dem Portier ein Paket Zigaretten in die Brusttasche und ging durch die schmale Tür an der Garderobe vorbei in den großen Raum. Die Bar war leer; sie wirkte wie üblich nach einem kleinbürgerlichen Symposion — Lachen von vergossenem Wein, ein paar umgeworfene Stühle, Zigarettenreste auf dem Boden und der Geruch nach Tabak, süßem Parfüm und Haut.

»Rolande«, sagte Ravic.

Sie stand vor einem Tisch, auf dem ein Haufen rosa Seidenwäsche lag. »Ravic«, sagte sie ohne Erstaunen. »Spät. Was willst du — ein Mädchen oder etwas zu trinken? Oder beides?«

»Wodka. Den Polnischen.«

Rolande brachte die Flasche und ein Glas. »Schenk dir selbst ein. Ich muß noch die Wäsche sortieren und aufschreiben. Das Auto der Wäscherei kommt gleich. Wenn man nicht alles notiert, stiehlt die Bande wie eine Schar Elstern. Die Chauffeure, verstehst du? Als Geschenke für ihre Mädchen.«

Ravic nickte. »Laß die Musik spielen, Rolande. Laut.«

»Gut.«

Rolande schaltete den Kontakt ein. Die Musik donnerte mit Pauken und Schlagzeug durch den hohen, leeren Raum wie ein Sturm.

»Zu laut, Ravic?«

»Nein.«

Zu laut? Was war zu laut? Nur die Stille. Die Stille, in der man zersprang wie in einem luftleeren Raum.

»Fertig.« Rolande kam zu Ravic an den Tisch. Sie hatte eine feste Figur, ein klares Gesicht und ruhige, schwarze Augen. Das schwarze, puritanische Kleid, das sie trug, kennzeichnete sie als Aufseherin; es unterschied sie von den fast nackten Huren.

»Trink etwas mit mir, Rolande.« »Gut.«

Ravic holte ein Glas von der Bar und schenkte ein. Rolande hielt die Flasche zurück, als das Glas halb voll war. »Genug! Ich trinke nicht mehr.«

»Halbleere Gläser sind scheußlich. Laß stehen, was du nicht trinkst.«

»Warum? Das wäre doch Verschwendung.«

Ravic blickte auf. Er sah das verläßliche, vernünftige Gesicht und lächelte. »Verschwendung! Die alte französische Angst. Wozu sparen? Mit dir wird auch nicht gespart.«

»Dies hier ist Geschäft. Das ist etwas anderes.«

Ravic lachte. »Laß uns ein Glas darauf trinken! Was wäre die Welt ohne die Moral des Geschäftes! Ein Haufen Verbrecher, Idealisten und Faulenzer.«

»Du brauchst ein Mädchen«, sagte Rolande. »Ich kann Kiki telefonieren. Sie ist sehr gut. Einundzwanzig Jahre alt.«

»So. Auch einundzwanzig Jahre alt. Das ist heute nichts für mich.« Ravic goß sein Glas wieder voll. »Woran denkst du eigentlich, Rolande, bevor du einschläfst?«

»Meistens an gar nichts. Ich bin zu müde.«

»Und wenn du nicht zu müde bist?«

»An Tours.«

»Warum?« »Eine Tante von mir hat da ein Haus mit einem Laden drin. Ich habe zwei Hypotheken darauf gegeben.Wenn sie stirbt — sie ist sechsundsiebzig —, bekomme ich das Haus. Ich will dann aus dem Laden ein Café machen. Helle Wände mit Blumenmustern, eine Kapelle, drei Mann: Klavier, Geige, Cello; im Hintergrund eine Bar. Klein und gut. Das Haus liegt in einem guten Viertel. Ich glaube, daß ich es mit neuntausendfünfhundert Franks einrichten kann, mit den Vorhängen und Lampen sogar. Dann will ich noch fünftausend Franks in Reserve haben für die erste Zeit. Und natürlich die Mieten aus der ersten und zweiten Etage. Daran denke ich.«

»Bist du in Tours geboren?«

»Ja. Aber niemand weiß, wo ich seitdem war. Und wenn das Geschäft gut geht, wird auch niemand sich darum kümmern. Geld deckt alles zu.«

»Nicht alles. Aber vieles.«

Ravic fühlte die Schwere hinter den Augen, die die Stimme langsamer machte.

»Ich glaube, ich habe genug«, sagte er und zog ein paar Scheine aus der Tasche. »Wirst du in Tours heiraten, Rolande?«

»Nicht gleich. Aber in ein paar Jahren. Ich habe einen Freund da.«

»Fährst du ab und zu hin?«

»Selten. Er schreibt mir manchmal. An eine andere Adresse natürlich. Er ist verheiratet, aber seine Frau ist im Hospital. Tuberkulose. Höchstens noch ein bis zwei Jahre, sagen die Ärzte. Dann ist er frei.«

Ravic stand auf. »Gott segne dich, Rolande. Du hast einen gesunden Menschenverstand.«

Sie lächelte ohne Mißtrauen. Sie fand, daß er recht hatte. Ihr klares Gesicht war nicht eine Spur müde. Es war frisch, als sei sie gerade aufgestanden. Sie wußte, was sie wollte. Das Leben hatte keine Geheimnisse für sie.

Draußen war es heller Tag geworden. Es hatte aufgehört zu regnen. Die Pissoirs standen wie kleine Panzertürme an den Straßenecken. Der Portier war verschwunden, die Nacht fortgewischt, der Tag hatte begonnen, und Scharen eiliger Menschen drängten sich an den Eingängen der Untergrundbahnen — als wären es Erdlöcher, in die sie hineinstürzten, um sich einer finsteren Gottheit zu opfern.

Die Frau fuhr vom Sofa hoch. Sie schrie nicht — sie fuhr nur mit einem leichten, unterdrückten Laut auf, stützte sich auf die Ellbogen und erstarrte.

»Ruhig, ruhig«, sagte Ravic. »Ich bin es. Derselbe, der Sie vor ein paar Stunden hergebracht hat.«

Die Frau atmete wieder. Ravic sah sie nur undeutlich; die brennenden elektrischen Birnen mischten sich mit dem Morgen, der durch das Fenster kroch, zu einem gelblich bleichen, kranken Licht. »Ich glaube, wir können das jetzt ausmachen«, sagte er und drehte den Schalter um.

Er fühlte wieder die weichen Hämmer der Trunkenheit hinter der Stirn. »Wollen Sie frühstücken?« fragte er. Er hatte die Frau vergessen gehabt und dann geglaubt, als er seinen Schlüssel geholt hatte, sie sei schon gegangen. Er wäre sie gern losgeworden. Er hatte genug getrunken, die Kulissen seines Bewußtseins hatten sich verschoben, die klirrende Kette der Zeit war zersprungen, und stark und furchtlos umstanden ihn die Erinnerungen und die Träume. Er wollte allein sein.

»Wollen Sie Kaffee?« fragte er. »Es ist das einzige, was hier gut ist.«

Die Frau schüttelte den Kopf. Er sah sie genauer an. »Ist was los? War jemand hier?«

»Nein.«

»Aber irgendwas muß doch los sein. Sie starren mich ja an wie ein Gespenst.«

Die Frau bewegte die Lippen. »Der Geruch«, sagte sie dann.

»Geruch?« wiederholte Ravic verständnislos; »Wodka riecht doch nicht. Kirsch und Brandy auch nicht. Und Zigaretten rauchen Sie ja selbst.Was ist daran zu erschrekken?«

»Das meine ich nicht...«

»Was denn, Herrgott?«

»Es ist derselbe... derselbe Geruch...«

»Du lieber Himmel, es wird Äther sein«, sagte Ravic, dem es auf einmal einfiel. »Ist es Äther?«

Sie nickte.

»Sind Sie einmal operiert worden?«

»Nein... es ist...«

Ravic hörte nicht mehr zu. Er öffnete das Fenster. »Wird gleich vorbei sein. Rauchen Sie eine Zigarette inzwischen.« — Er ging ins Badezimmer und drehte die Hähne auf. Im Spiegel sah er sein Gesicht. Er hatte ein paar Stunden vorher schon einmal so gestanden. Inzwischen war ein Mensch gestorben. Es war nichts dabei. Jeden Augenblick starben Tausende von Menschen. Es gab Statistiken darüber. Es war nichts dabei. Aber für den einen, der starb, war es alles und wichtiger als die ganze Welt, die weiter kreiste.

Er setzte sich auf den Rand der Wanne und zog die Schuhe aus. Das blieb immer dasselbe. Die Dinge und ihr stummer Zwang. Die Trivialität, die schmale Gewohnheit in all dem irrlichternden Vergleiten. Das blühende Ufer des Herzens an den Wassern der Liebe — aber wer man auch war, Poet, Halbgott oder Idiot — alle paar Stunden wurde man aus seinen Himmeln geholt, um zu urinieren. Dem war nicht zu entgehen! Die Ironie der Natur. Der romantische Regenbogen über Drüsenreflexen und Verdauungsgequirl. Die Organe der Verzückung diabolisch gleichzeitig zur Ausscheidung organisiert. Ravic warf die Schuhe in eine Ecke. Verhaßte Gewohnheit des Ausziehens! Sogar dem war nicht zu entkommen. Nur wer allein lebte, begriff das. Irgendeine verdammte Ergebenheit, ein Aufgehen war darin. Er hatte oft schon in seinen Kleidern geschlafen, um ihr zu entgehen; aber es war nur ein Verschieben. Es war ihr nicht zu entkommen.

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