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Er schloß die Tür nicht ab. Wenn Joan Madou kam, würde sie ihn nicht finden. Sie konnte bleiben, wenn sie wollte. Er überlegte eine Sekunde, ob er einen Zettel hinterlassen sollte. Aber er wollte nicht lügen, und er wollte ihr auch nicht sagen, wohin er ging.

Er kam gegen acht Uhr morgens zurück. Er war durch die kalte Laternenfrühe gegangen und hatte sich klar und entspannt gefühlt. Aber als er vor dem Hotel stand, spürte er die Spannung wieder.

Joan war nicht da. Ravic erklärte sich, daß er nichts anderes erwartet hatte. Aber das Zimmer erschien ihm leerer als sonst. Er sah sich um und suchte nach einem Zeichen, ob sie dagewesen sei. Er fand nichts.

Er klingelte dem Mädchen. Sie kam nach einer Weile. »Ich möchte Frühstück haben«, sagte er.

Sie sah ihn an. Sie sagte nichts. Er wollte sie auch nichts fragen. »Kaffee und Croissants, Eve.«

»Sehr wohl, Herr Ravic.«

Er sah das Bett an. Wenn Joan gekommen war, konnte man nicht gut erwarten, daß sie sich in ein zerwühltes, leeres Bett legte. Sonderbar, wie tot alles wurde, was mit dem Körper zu tun hatte, wenn es nicht mehr seine Wärme hatte — ein Bett, Wäsche, sogar ein Bad. Es wurde abstoßend, wenn es die Wärme verlor.

Er zündete sich eine Zigarette an. Sie konnte angenommen haben, er wäre zu einem Patienten gerufen worden. Aber dann hätte er einen Zettel hinterlassen können. Er fand sich plötzlich idiotisch. Er hatte unabhängig sein wollen und war nur rücksichtslos gewesen. Rücksichtslos und albern wie ein Achtzehnjähriger, der sich selbst etwas beweisen will. Es war mehr Abhängigkeit darin, als wenn er gewartet hätte.

Das Mädchen brachte das Frühstück. »Soll ich das Bett machen?« fragte es.

»Warum jetzt?«

»Wenn Sie noch schlafen wollen. Es schläft sich besser in einem frischen Bett.«

Sie sah ihn ausdruckslos an.

»War jemand hier?« fragte er.

»Ich weiß es nicht. Ich bin erst um sieben gekommen.«

»Eve«, sagte Ravic. »Wie fühlt man sich, wenn man jeden Morgen ein Dutzend Betten von fremden Leuten machen muß?«

»Es geht, Herr Ravic. Solange die Herrschaften weiter nichts wollen. Aber es sind immer einige da, die mehr wollen. Dabei sind die Bordelle doch so billig in Paris.«

»Morgens kann man nicht ins Bordell gehen, Eve. Und morgens fühlen sich manche Gäste besonders stark.«

»Ja, besonders die alten.« Sie zuckte die Schultern. »Man verliert das Trinkgeld, wenn man es nicht tut, das ist alles. Einige beschweren sich auch hinterher jeden Augenblick — daß das Zimmer nicht sauber sei oder daß man frech wäre. Aus Wut natürlich. Man kann nichts dagegen tun. So ist das Leben.«

Ravic zog einen Geldschein hervor. »Machen wir uns heute das Leben etwas einfacher, Eve. Kaufen Sie sich einen Hut dafür. Oder eine Wolljacke.«

Eves Augen belebten sich. »Danke, Herr Ravic. Der Tag fängt gut an. Soll ich dann das Bett später machen?«

»Ja.«

Sie sah ihn an. »Die Dame ist eine sehr interessante Dame«, sagte sie. »Die Dame, die jetzt immer kommt.«

»Noch ein Wort, und ich nehme Ihnen den Schein wieder ab.« Ravic schob Eve zur Tür hinaus. »Die alten Erotiker warten schon auf Sie. Enttäuschen Sie sie nicht.«

Er setzte sich an den Tisch und aß. Das Frühstück schmeckte ihm nicht besonders. Er stand auf und aß stehend. Es schmeckte besser.

Die Sonne kam rot über die Dächer. Das Hotel erwachte. Der alte Goldberg im Stock unter ihm begann sein Morgenkonzert. Er hustete und krächzte, als hätte er sechs Lungen. Der Emigrant Wiesenhoff öffnete sein Fenster und pfiff einen Parademarsch. Im Stock darüber rauschte Wasser. Türen klappten. Nur bei den Spaniern war alles still. Ravic reckte sich. Die Nacht war vorbei. Die Korruption der Dunkelheit war vorüber. Er beschloß, ein paar Tage allein zu bleiben.

Draußen riefen die Zeitungsjungen die Morgennachrichten aus. — Zwischenfälle an der tschechischen Grenze. Deutsche Truppen an der Sudetenlinie. Der Pakt von München in Gefahr.

11

Der Junge schrie nicht. Er starrte die Ärzte nur an. Er war noch so verstört, daß er den Schmerz nicht fühlte. Ravic warf einen Blick auf das zerschmetterte Bein. »Wie alt ist er?« fragte er die Mutter.

»Was?« fragte die Frau verständnislos.

»Wie alt ist er?«

Die Frau mit dem Kopftuch bewegte die Lippen. »Sein Bein!« sagte sie. »Sein Bein! Es war ein Lastauto.«

Ravic horchte das Herz ab. »Ist er einmal krank gewesen, früher?«

»Sein Bein!« sagte die Frau.

»Es ist doch sein Bein!«

Ravic richtete sich auf. Das Herz schlug rasch wie ein Vogelherz, aber es war nichts Alarmierendes zu hören. Er mußte den Jungen, der abgezehrt und rachitisch aussah, während der Narkose beobachten. Er mußte sofort anfangen. Das zerrissene Bein war voll Straßenschmutz.

»Wird nun das Bein abgenommen?« fragte der Junge.

»Nein«, sagte Ravic, ohne es zu glauben.

»Es ist besser, Sie nehmen es ab, anstatt daß es steif wird.«

Ravic sah aufmerksam in das altkluge Gesicht. Es war noch kein Zeichen von Schmerz darin. »Wir werden sehen«, sagte er. »Wir müssen dich jetzt einschläfern. Es ist sehr einfach. Du brauchst keine Angst zu haben. Sei ganz ruhig.«

»Einen Augenblick, mein Herr. Die Nummer ist FO 2019. Wollen Sie das aufschreiben für meine Mutter?«

»Was? Was, Jeannot?« fragte die Mutter aufgeschreckt.

»Ich habe mir die Nummer gemerkt. Die Nummer des Autos. FO 2019. Ich sah sie dicht vor mir. Es war rotes Licht. Der Fahrer war schuld.« Der Junge begann mühsam zu atmen. »Die Versicherung muß zahlen. Die Nummer...«

»Ich habe sie aufgeschrieben«, sagte Ravic. »Sei ruhig. Ich habe alles aufgeschrieben.« Er winkte Eugenie, mit der Narkose anzufangen.

»Meine Mutter muß zur Polizei gehen. Die Versicherung muß zahlen.« Dicke Schweißperlen standen so plötzlich auf dem Gesicht, als hätte es darauf geregnet. »Wenn Sie das Bein abnehmen, zahlt sie mehr... als wenn es... steif bleibt...«

Die Augen versanken in blauschwarzen Ringen, die aus der Haut hervortraten wie schmutzige Teiche. Der Junge stöhnte und versuchte, rasch noch etwas zu sagen. »Meine Mutter... versteht nicht... Sie... helfen...« Er konnte nicht mehr. Er fing an zu brüllen, als hocke in ihm ein gemartertes Tier.

»Was macht die Welt draußen, Ravic?« fragte Kate Hegström.

»Wozu wollen Sie das wissen, Kate? Denken Sie lieber an etwas Erfreulicheres.«

»Ich habe das Gefühl, daß ich schon seit Wochen hier bin. Alles andere ist weit fort, wie versunken.«

»Lassen Sie es ruhig eine Weile versunken bleiben.«

»Nein. Ich fürchte sonst, daß dieses Zimmer die letzte Arche ist und daß unter dem Fenster schon die Sintflut kommt. Was ist draußen los, Ravic?«

»Nichts Neues, Kate. Die Welt fährt eifrig fort, ihren Selbstmord vorzubereiten und sich gleichzeitig darüber hinwegzutäuschen.«

»Gibt es Krieg?«

»Daß es Krieg gibt, weiß jeder.Was man noch nicht weiß, ist wann. Jeder wartet auf ein Wunder.« Ravic lächelte. »Ich habe noch nie so viele wundergläubige Staatsmänner gesehen wie augenblicklich in Frankreich und England. Und noch nie so wenige wie in Deutschland.«

Sie lag eine Zeitlang still. »Daß das möglich ist...«, sagte sie dann.

»Ja — es scheint so unmöglich, daß es eines Tages geschehen wird. Eben deshalb, weil man es für unmöglich hielt und sich deshalb nicht schützte. Haben Sie Schmerzen, Kate?«

»Nicht so viel, daß ich es nicht aushalten kann.« Sie schob das Kissen unter ihrem Kopf zurecht. »Ich möchte fort von dem allem, Ravic.«

»Ja...«, erwiderte er ohne Überzeugung. »Wer möchte das nicht?«

»Wenn ich hier ’rauskomme, will ich nach Italien gehen. Nach Fiesole. Ich habe da ein stilles, altes Haus mit einem Garten. Da will ich eine Zeitlang bleiben. Es wird noch kühl sein. Eine blasse, heitere Sonne. Mittags die ersten Eidechsen auf der Südmauer. Abends die Glocken von Florenz. Und nachts der Mond und die Sterne hinter den Zypressen. Es sind Bücher in dem Haus, und es ist da ein großer, steinerner Kamin mit Holzbänken darin. Man kann am Kamin vor dem Feuer sitzen. Die eisernen Feuerböcke sind so gemacht, daß sie einen Halter tragen, in den man sein Glas stellen kann. Der rote Wein wird so gewärmt. Keine Menschen. Nur ein altes Ehepaar, das Ordnung hält.«

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