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Sie war aufgestanden. Ihr Kimono umfaltete sie majestätisch. Der Kanarienvogel im Käfig fing wie auf Kommando an zu singen. Ravic erhob sich. Er hatte Sinn für Melodramatik. Aber er wußte auch, daß die Boucher nicht übertrieb. »Schön«, sagte er. »Ich gehe jetzt. Für Lucienne waren Sie gerade kein Wohltäter.«

»Sie hätten sie sehen sollen, vorher! Was will sie denn mehr? Sie ist gesund — das Kind ist weg — das ist doch alles, was sie wollte. Und die Klinik braucht sie nicht zu bezahlen.«

»Sie kann nie wieder ein Kind bekommen.«

Die Boucher stutzte eine Sekunde. »Um so besser«, erklärte sie dann ungerührt. »Da wird sie selig sein, die kleine Hure.«

Ravic sah, daß nichts zu machen war. »Au revoir, Madame Boucher«, sagte er. »Es war interessant bei Ihnen.«

Sie kam dicht an ihn heran. Ravic hätte gern vermieden, ihr die Hand zu gehen. Aber sie dachte gar nicht daran. Sie dämpfte vertraulich ihre Stimme. »Sie sind vernünftig, mein Herr.Vernünftiger als die meisten Ärzte. Schade, daß Sie...« sie stockte und sah ihn aufmunternd an. »Manchmal braucht man für gewisse Fälle... ein verständiger Arzt würde eine große Hilfe sein können...«

Ravic widersprach nicht. Er wollte mehr hören. »Es würde Ihr Schaden nicht sein«, fügte die Boucher hinzu. »Gerade in speziellen Fällen.« Sie beobachtete ihn wie eine Katze, die vorgibt, Vögel zu lieben. »Wohlhabende Klienten sind darunter, manchmal... Zahlung natürlich nur im voraus, und... wir sind sicher, todsicher mit der Polizei... ich nehme an, daß Sie ganz gut einige hundert Frank Nebenverdienst brauchen könnten...« sie klopfte ihm auf die Schulter — »ein gutaussehender Mann wie Sie...«

Sie ergriff mit einem breiten Lächeln die Flasche. »Nun, was meinen Sie?«

»Danke«, sagte Ravic und hielt die Flasche zurück. »Keinen mehr. Ich vertrage nicht viel.« Es fiel ihm schwer, denn der Kognak war hervorragend. Die Flasche hatte kein Fabriketikett und stammte bestimmt aus einem erstklassigen Privatkeller. »Die andere Sache werde ich mir überlegen. Ich komme nächstens einmal wieder. Ich würde ganz gern einmal Ihre Instrumente sehen.Vielleicht kann ich Ihnen da einen Rat geben.«

»Meine Instrumente zeige ich Ihnen, wenn Sie wiederkommen. Sie zeigen mir dann Ihre Papiere. Ein Vertrauen um das andere.«

»Sie haben mir schon ein gewisses Vertrauen gezeigt.«

»Nicht das mindeste«, lächelte die Boucher. »Ich habe Ihnen nur einen Vorschlag gemacht, den ich jederzeit abstreiten kann. Sie sind kein Franzose, das hört man, obschon Sie gut sprechen. Sie sehen auch nicht so aus. Sie sind wahrscheinlich ein Refugié.« Sie lächelte stärker und sah ihn mit kühlen Augen an. »Man würde Ihnen nicht glauben und sich höchstens für das französische Diplom interessieren, das Sie nicht haben. Draußen im Vorzimmer sitzt ein Polizeibeamter. Wenn Sie wollen, können Sie mich da gleich anzeigen. Sie werden es nicht tun. Aber meinen Vorschlag können Sie sich überlegen. Sie würden mir Ihren Namen und Ihre Adresse nicht geben, nicht wahr?«

»Nein«, sagte Ravic, der sich geschlagen fühlte.

»Das dachte ich mir.« Die Boucher sah jetzt wirklich aus wie eine ungeheure, vollgefressene Katze. »Au revoir, Monsieur! Überlegen Sie mein Angebot. Ich habe schon öfter daran gedacht, einen Refugié-Arzt hinzuzuziehen.«

Ravic lächelte. Er wußte, weshalb. Einen Refugié-Arzt hatte sie vollkommen in der Hand. Wenn irgendwann einmal etwas passierte, war er der Schuldige. »Ich werde darüber nachdenken«, sagte er. »Au revoir, Madame!«

Er ging den dunklen Korridor entlang. Hinter einer der Türen hörte er jemand stöhnen. Er nahm an, daß die Zimmer wie Kojen eingerichtet waren, mit Betten. Die Frauen blieben ein paar Stunden dort liegen, bevor sie nach Hause wankten.

Im Vorzimmer saß ein schlanker Mann mit einem gestutzten Schnurrbärtchen und olivfarbener Haut. Er betrachtete Ravic aufmerksam. Neben ihm saß Roger. Er hatte eine zweite Flasche des alten Kognaks auf dem Tisch. Unwillkürlich suchte er sie zu verstecken, als er Ravic sah. Dann grinste er und ließ die Hand fallen. »Bonsoir, docteur«, sagte er und zeigte ein fleckiges Gebiß. Er schien an der Tür gelauscht zu haben.

»Bonsoir, Roger.« Es schien Ravic angemessen, familiär zu sein. Innerhalb einer halben Stunde hatte das unverwüstliche Weib dadrinnen ihn aus einem offenen Feind nahezu in einen Komplicen verwandelt. Da war es danach direkt eine Erlösung, nicht zu formell zu Roger zu sprechen, der plötzlich, nach all dem, etwas erstaunlich Menschliches hatte.

Unten auf der Treppe begegneten ihm zwei Mädchen. Sie suchten an den Türen herum. »Mein Herr«, fragte die eine dann mit einem Entschluß.

»Wohnt Madame Boucher hier im Hause?«

Ravic zögerte. Aber was hatte es für einen Zweck, etwas zu sagen? Es würde nichts nützen. Sie würden doch gehen. Er konnte ihnen ja auch nichts anderes angeben. »Im dritten Stock. Es ist ein Schild an der Tür.«

Das Leuchtzifferblatt der Uhr schimmerte wie eine winzige, geborgte Sonne durch das Dunkel. Es war fünf Uhr morgens. Joan hätte um drei Uhr kommen sollen. Möglich, daß sie noch kam. Möglich auch, daß sie zu müde gewesen und gleich in ihr Hotel gegangen war.

Ravic legte sich zurück, um weiter zu schlafen. Aber er schlief nicht ein. Er lag lange und blickte auf die Decke, auf der das rote Band der Leuchtreklame vom Dach schräg gegenüber in regelmäßigen Abständen entlanglief. Er fühlte sich leer und wußte nicht warum. Es war, als ob die Wärme seines Körpers langsam durch die Haut tropfte, irgendwohin, und als ob sein Blut sich anlehnen wollte, an etwas, das nicht da war, und als ob es fiel und fiel in ein sanftes Nirgendwo. Er kreuzte die Hände hinter dem Kopf und lag still. Er wußte jetzt, daß er wartete. Und er wußte, daß nicht nur sein Bewußtsein auf Joan Madou wartete, daß seine Hände und seine Adern und eine sonderbare, fremde Zärtlichkeit in ihm warteten.

Er stand auf, zog seinen Morgenmantel an und setzte sich ans Fenster. Er fühlte die Wärme der weichen Wolle auf seiner Haut. Der Mantel war alt; er hatte ihn durch viele Jahre mitgeschleppt. Er hatte in ihm auf der Flucht geschlafen; er hatte in den kalten Nächten Spaniens, wenn er todmüde aus dem Lazarett in seine Baracke zurückkam, sich in ihm gewärmt, Juana, zwölf Jahre alt, mit Augen, die achtzig Jahre alt waren, war unter ihm in einem zerschossenen Hotel Madrids gestorben — mit dem einzigen Wunsch, einmal ein Kleid aus so weicher Wolle zu besitzen und zu vergessen, wie man ihre Mutter vergewaltigt und ihren Vater zu Tode getrampelt hatte.

Er blickte sich um. Das Zimmer, ein paar Koffer, ein paar Sachen, eine Handvoll zerlesener Bücher — ein Mann braucht wenige Dinge, um zu leben. Es war gut, sich nicht an viele zu gewöhnen, wenn das Leben unruhig war. Man hatte sie immer wieder zu verlassen, oder sie wurden genommen. Man mußte jeden Tag aufbrechen können. Das war der Grund, weshalb er allein gelebt hatte; wenn man unterwegs war, sollte man nichts haben, was einen festhalten konnte. Nichts, was das Herz bewegte. Das Abenteuer — aber nicht mehr.

Er sah auf das Bett. Das verwühlte, blasse Leinen. Es machte nichts, daß er wartete. Er hatte oft auf Frauen gewartet. Aber er fühlte, daß er anders gewartet hatte — einfach, klar und brutal. Manchmal auch mit der anonymen Zärtlichkeit, die die Begierde umsilberte — aber lange nicht mehr so wie heute. Es war da etwas in ihn hineingeschlichen, auf das er nicht geachtet hatte. Regte es sich da wieder? Bewegte es sich? Wie lange war das her? Rief da nicht schon wieder etwas aus der Vergangenheit, aus blauen Tiefen; wehte es nicht bereits wie ein Hauch von Wiesen, voll von Pfefferminz, eine Pappelreihe am Horizont, der Geruch von Wäldern im April? Er wollte es nicht mehr. Er wollte es nicht besitzen. Er wollte nicht besessen werden.

Er war unterwegs.

Er stand auf und begann sich anzuziehen. Man mußte unabhängig bleiben. Alles begann mit kleinen Abhängigkeiten. Man achtete nicht darauf — und plötzlich hing man im Netz der Gewohnheit. Gewohnheit, für die es viele Namen gab — Liebe war eine davon. Man sollte sich an nichts gewöhnen. Nicht einmal an einen Körper.

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