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Der Mann überlegte. »Warten Sie«, sagte er dann und schloß die Tür.

Ravic betrachtete die abgestoßene, braungestrichene Tür mit dem blechernen Briefkasten und dem runden Emailleschild mit dem Namen. Eine Menge Elend und Angst war durch diese Tür gegangen. Ein paar sinnlose Gesetze, die viele Leben zwangen, anstatt zu Ärzten zu Pfuschern zu gehen, waren die Ursache. Kein Kind wurde dadurch mehr geboren. Wer es nicht wollte, fand einen Weg, Gesetz oder nicht. Der einzige Unterschied war nur, daß jährlich Tausende von Müttern ruiniert wurden.

Die Tür öffnete sich wieder. »Sind Sie von der Polizei?« fragte der unrasierte Mann.

»Wenn ich von der Polizei wäre, würde ich nicht mehr hier warten.«

»Kommen Sie ’rein.«

Der Mann bugsierte Ravic durch einen dunklen Korridor in einen Raum, der mit Möbeln vollgestopft war. Ein Plüschsofa und eine Anzahl vergoldeter Stühle, ein falscher Aubussonteppich, Nußbaumvertiko und an den Wänden Drucke aus der Schäferzeit. Vor dem Fenster stand ein metallener Ständer mit einem Vogelkäfig und einem Kanarienvogel darin. Wo nur irgendwo Platz war, sah man Porzellan und Nippesfiguren.

Madame Boucher erschien. Sie war enorm dick und trug eine Art von herumflutendem Kimono, der nicht ganz sauber wirkte. Sie war ein Monstrum; aber das Gesicht war glatt und hübsch, bis auf die Augen, die unruhig umherwanderten. »Monsieur?« fragte sie geschäftlich und blieb stehen.

Ravic stand auf. »Ich komme für Lucienne Martinet. Sie haben bei ihr einen Eingriff gemacht.«

»Unsinn!« erwiderte die Frau sofort und völlig ruhig. »Ich kenne keine Lucienne Martinet, und ich mache keine Eingriffe. Sie müssen sich geirrt haben, oder man hat Sie belogen.«

Sie tat, als sei die Sache damit erledigt und als wolle sie gehen.

Aber sie ging nicht. Ravic wartete. Sie drehte sich um. »Sonst noch etwas?«

»Der Eingriff ist mißlungen. Das Mädchen hatte eine schwere Blutung und ist fast gestorben. Sie mußte operiert werden. Ich habe sie operiert.«

»Lüge!« zischte die Boucher plötzlich. »Lüge! Die Ratten! Murksen an sich selbst herum und wollen dann andere hereinreißen. Aber ich werde ihr das schon beibringen. Diese Ratten! Mein Anwalt wird das schon erledigen. Ich bin bekannt und ein Steuerzahler, und ich will doch mal sehen, ob so ein freches, kleines Biest, das herumhurt...«

Ravic betrachtete sie fasziniert. Ihr Gesicht hatte sich bei dem Ausbruch nicht verändert. Es war glatt und hübsch geblieben, nur der Mund war zusammengezogen und spuckte wie ein Maschinengewehr.

»Das Mädchen will wenig«, unterbrach er die Frau. »Es will nur das Geld zurückhaben, das es Ihnen gezahlt hat.«

Die Boucher lachte. »Geld? Zurückzahlen? Wann habe ich denn etwas von ihr bekommen? Hat sie eine Quittung?«

»Natürlich nicht. Sie werden doch keine Quittungen ausstellen.«

»Weil ich sie nie gesehen habe! Und das soll ihr jemand glauben?«

»Ja. Sie hat Zeugen. Sie ist operiert worden in der Klinik Doktor Vebers. Der Befund war klar. Es gibt ein Protokoll darüber.«

»Sie können tausend Protokolle haben! Wo steht, daß ich sie angerührt habe! Klinik! Doktor Veber! Zum Totlachen! So eine Ratte muß in eine feine Klinik! Haben Sie sonst nichts zu tun?«

»Doch. Genug. Hören Sie. Das Mädchen hat Ihnen dreihundert Frank gezahlt. Es kann Sie verklagen auf Schadenersatz...«

Die Tür öffnete sich. Der schwärzliche Mann trat ein. »Irgend etwas los, Adele?«

»Nein. Schadenersatz klagen? Wenn sie klagt, wird sie selbst verurteilt. Zuerst sie einmal, das ist sicher, denn sie gibt zu, daß ein Eingriff gemacht worden ist. Daß ich es war, muß sie dann noch beweisen. Das kann sie nicht.«

Der schwärzliche Mann meckerte. »Ruhig, Roger«, sagte Madame Boucher. »Du kannst gehen.«

»Brunier ist draußen.«

»Gut. Sag ihm, er soll warten. Du weißt ja...«

Der Mann nickte und verschwand. Mit ihm verschwand ein intensiver Kognakgeruch. Ravic schnupperte. »Das ist alter Kognak«, sagte er. »Mindestens dreißig, vierzig Jahre alt. Glücklicher Mensch, der so etwas schon am Nachmittag trinkt.«

Die Boucher starrte ihn einen Augenblick konsterniert an. Dann verzog sie langsam die Lippen. »Stimmt.Wollen Sie einen?«

»Warum nicht?«

Sie war trotz ihrer Dicke überraschend schnell und lautlos an der Tür. »Roger!«

Der schwärzliche Mann erschien. »Du bist wieder an dem guten Kognak gewesen! Lüg nicht, ich rieche es! Bring die Flasche! Rede nicht, bring die Flasche!«

Roger brachte eine Flasche. »Ich habe Brunier einen gegeben. Er zwang mich, einen mitzutrinken.«

Die Boucher antwortete nicht. Sie schloß die Tür und holte aus dem Nußbaumvertiko ein geschweiftes Glas. Ravic betrachtete es mit Abscheu. Es hatte einen Frauenkopf eingraviert. Die Boucher schenkte ein und stellte das Glas vor ihn auf die Tischdecke, die mit Pfauen verziert war. »Sie scheinen ein vernünftiger Mensch zu sein, mein Herr«, sagte sie.

Ravic konnte ihr eine gewisse Achtung nicht versagen. Sie war nicht aus Eisen, wie Lucienne ihm erzählt hatte; sie war schlimmer — aus Gummi. Eisen konnte man brechen, Gummi nicht.

Der Einwand gegen die Schadenersatzforderung war richtig. »Ihre Operation ist mißglückt«, sagte er. »Sie hatte schlimme Folgen. Das sollte Grund genug für Sie sein, das Geld zurückzugeben.«

»Zahlen Sie Geld zurück, wenn ein Patient nach der Operation stirbt?«

»Nein. Aber wir nehmen manchmal kein Geld für eine Operation. Zum Beispiel von Lucienne.«

Die Boucher sah ihn an. »Na also — wozu macht sie dann noch Geschichten? Kann doch froh sein!«

Ravic hob das Glas. »Madame«, sagte er. »Meine Hochachtung. Sie sind nicht kleinzukriegen.«

Die Frau stellte langsam die Flasche auf den Tisch. »Mein Herr, das haben schon viele versucht. Aber Sie scheinen vernünftiger zu sein. Meinen Sie, das Geschäft ist ein Spaß oder alles Verdienst? Von den dreihundert Frank gehen fast hundert weg an die Polizei. Glauben Sie, ich könnte sonst arbeiten? Da draußen sitzt schon wieder einer, um Geld zu holen. Schmieren muß man, immer schmieren. Sonst geht es nicht. Ich sage Ihnen das hier allein, zwischen uns, und sollten Sie etwas damit anfangen wollen, würde ich es abstreiten, und die Polizei würde die Sache versacken lassen. Sie können das glauben.«

»Ich glaube es.«

Die Boucher warf ihm einen schnellen Blick zu. Als sie sah, daß er es nicht ironisch meinte, rückte sie einen Stuhl heran und setzte sich. Sie rückte den Stuhl heran wie eine Feder; unter ihrem Fett schien sie enorme Kraft zu haben. Sie goß sein Glas mit dem Bestechungskognak noch einmal voll. »Dreihundert Frank sieht nach viel Geld aus — aber es geht noch mehr davon ab als nur die Polizei. Die Miete — hier natürlich viel höher als anderswo, Wäsche, Apparate — für mich doppelt so teuer wie für Ärzte, Provisionen, Bestechungen — gut stehen muß man mit allen, Getränke, Geschenke zu Neujahr und zu den Geburtstagen für die Beamten und ihre Frauen — allerhand, mein Herr! Manchmal bleibt kaum etwas.«

»Dagegen ist nichts zu sagen.«

»Wogegen denn?«

»Daß so etwas passiert, wie mit Lucienne.«

»Passiert das bei Ärzten nie?« fragte die Boucher rasch.

»Längst nicht so oft .«

»Mein Herr!« Sie richtete sich auf. »Ich bin ehrlich. Ich sage jeder, die kommt, daß etwas passieren kann dabei. Und keine geht zurück. Sie flehen mich an, es zu machen. Sie jammern und sind verzweifelt. Sie wollen Selbstmord begehen, wenn ich ihnen nicht helfe. Was für Szenen sich hier schon abgespielt haben. Auf dem Teppich haben sie sich gewälzt und mich angefleht! Sehen Sie dort das Vertiko, die Ecke, wo die Politur abgeschlagen ist? Eine wohlhabende Dame hat das in ihrer Verzweiflung getan. Ich habe ihr geholfen. Wollen Sie etwas anderes sehen? In der Küche stehen zehn Pfund Pflaumenmarmelade, die sie gestern geschickt hat. Aus reiner Dankbarkeit, obschon sie bezahlt hat. Ich will Ihnen etwas sagen, mein Herr...« die Stimme der Boucher hob sich und wurde voller —, »Sie mögen mich eine Abtreiberin nennen — andere nennen mich ihren Wohltäter und Engel.«

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