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Die Fiebertabelle über dem Bett war neu und leer. Nur der Name stand darauf. Lucienne Martinet. Butte Chaumont, Rue Clavel.

Das Mädchen lag grau in den Kissen. Es war am Abend vorher operiert worden. Ravic prüfte vorsichtig das Herz. Dann richtete er sich auf. »Besser«, sagte er. »Die Blutübertragung hat ein kleines Wunder gewirkt. Wenn sie bis morgen durchhält, hat sie eine Chance.«

»Gut«, sagte Veber. »Gratuliere. Es sah nicht so aus. Hundertvierzig Puls und achtzig Blutdruck! Coffein, Coramin — das war verdammt nahe daran.«

Ravic zuckte die Achseln. »Da ist nichts zu gratulieren. Sie ist früher gekommen als die andere. Die mit der Goldkette um den Fuß. Das ist alles.«

Er deckte das Mädchen zu. »Das ist der zweite Fall in einer Woche.Wenn es so weitergeht, werden Sie noch eine Klinik für verpfuschte Aborte in der Butte Chaumont.War die andere nicht auch daher?«

Veber nickte. »Ja, auch von der Rue Clavel. Kannten sich wahrscheinlich und waren bei derselben Hebamme. Kam sogar um dieselbe Zeit, abends, wie die andere. Gut, daß ich Sie noch im Hotel erreicht habe. Dachte schon, Sie wären nicht mehr da.«

Ravic sah ihn an. »Wenn man im Hotel wohnt, ist man meistens abends nicht da, Veber — Hotelzimmer im November sind nichts besonders Trostvolles.«

»Das kann ich mir vorstellen. Aber weshalb wohnen Sie dann eigentlich immer im Hotel?«

»Es ist bequem und unpersönlich. Man ist allein und doch nicht allein.«

»Wollen Sie das?«

»Ja.«

»Das können Sie anderswie doch auch.Wenn Sie sich ein kleines Appartement mieten, haben Sie es doch ebenso.«

»Vielleicht.« Ravic beugte sich über das Mädchen.

»Finden Sie nicht auch, Eugenie?« fragte Veber.

Die Operationsschwester blickte auf. »Herr Ravic wird das nie tun«, sagte sie kalt.

»Doktor Ravic, Eugenie«, korrigierte Veber. »Er war Chefchirurg eines großen Hospitals in Deutschland. Viel mehr als ich.«

»Hier...«, begann die Schwester und rückte ihre Brille zurecht.

Veber winkte rasch ab. »Gut! Gut! Wir wissen das alles. Hier erkennt der Staat keine ausländischen Examen an. Blödsinnig genug! Aber woher wissen Sie so genau, daß er kein Appartement nehmen wird?«

»Herr Ravic ist ein verlorener Mensch; er wird nie ein Heim gründen.«

»Was?« fragte Veber verblüfft. »Was reden Sie da?«

»Herrn Ravic ist nichts mehr heilig. Das ist der Grund.«

»Bravo«, sagte Ravic vom Bett des Mädchens her.

»Hat man so etwas schon mal gehört?« Veber starrte Eugenie an.

»Fragen Sie ihn nur selbst, Doktor Veber.«

Ravic richtete sich auf. »Sie haben ins Schwarze getroffen, Eugenie. Aber wenn einem nichts mehr heilig ist, wird einem alles auf eine menschlichere Weise wieder heilig. Man verehrt den Funken Leben, der selbst in einem Regenwurm pulst und ihn ab und zu ans Licht treibt. Das soll kein Vergleich sein.«

»Sie können mich nicht treffen. Sie haben keinen Glauben.« Eugenie strich sich energisch den weißen Kittel über der Brust zurecht. »Ich habe gottlob meinen Glauben.«

Ravic griff nach seinem Mantel. »Glaube macht leicht fanatisch. Deshalb haben alle Religionen so viel Blut gekostet.« Er grinste offen. »Toleranz ist die Tochter des Zweifels, Eugenie. Sind Sie mit all Ihrem Glauben nicht viel aggressiver gegen mich als ich verlorener Ungläubiger gegen Sie?«

Veber lachte. »Da haben Sie es, Eugenie. Antworten Sie nicht. Es wird nur noch schlimmer!«

»Meine Würde als Frau...«

»Gut!« unterbrach Veber sie. »Bleiben Sie dabei!« Das ist immer gut. Ich muß jetzt fort. Habe noch im Büro zu tun. Kommen Sie, Ravic. Guten Morgen, Eugenie.«

»Guten Morgen, Doktor Veber.«

»Guten Morgen, Schwester Eugenie«, sagte Ravic.

»Guten Morgen«, erwiderte Eugenie mühsam und erst, nachdem Veber sich nach ihr umgesehen hatte.

Vebers Büro war vollgestopft mit Möbeln aus der Empirezeit; weiß, golden und zerbrechlich. Über dem Schreibtisch hingen Fotografien seines Hauses und seines Gartens. An der Längswand stand eine breite, moderne Chaiselongue.Veber schlief darauf, wenn er nachts einmal dablieb. Die Klinik gehörte ihm.

»Was wollen Sie trinken, Ravic? Kognak oder Dubonnet?«

»Kaffee, wenn Sie noch welchen da haben.«

»Natürlich.«

Veber stellte die Maschine auf den Schreibtisch und schaltete den Kontakt ein. Dann wandte er sich an Ravic.

»Können Sie mich heute nachmittag in der ›Osiris‹ vertreten?«

»Selbstverständlich.«

»Macht es Ihnen nichts?«

»Nicht das geringste. Ich habe nichts vor.«

»Gut. Ich brauche dann nicht extra wieder hereinzufahren. Kann in meinem Garten arbeiten. Ich hätte Fauchon gefragt, aber er ist in Urlaub.«

»Unsinn«, sagte Ravic. »Ich habe es doch schon oft genug gemacht.«

»Das ist richtig. Immerhin...«

»Immerhin gibt es heutzutage nicht mehr. Nicht für mich.«

»Ja. Idiotisch genug, daß ein Mann mit Ihrem Können hier nicht offiziell arbeiten darf und sich als schwarzer Chirurg verstecken muß.«

»Aber Veber! Das ist doch schon eine alte Geschichte. Geht ja allen Ärzten so, die aus Deutschland geflüchtet sind.«

»Trotzdem! Es ist lächerlich! Sie machen Durants schwierigste Operationen, und er macht sich einen Namen damit.«

»Besser, als wenn er sie selbst machte.«

Veber lachte.

»Ich sollte nicht reden. Sie machen meine ja auch. Aber schließlich bin ich hauptsächlich Frauenarzt und kein Spezialist als Chirurg.«

Die Kaffeemaschine begann zu pfeifen. Veber stellte sie ab. Er holte Tassen aus einem Schrank und goß den Kaffee ein. »Eines verstehe ich nicht, Ravic«, sagte er. »Weshalb wohnen Sie wirklich noch immer in dieser Bude, dem ›International‹. Warum mieten Sie sich nicht eines dieser neuen Appartements in der Nähe des Bois? Ein paar Möbel können Sie überall billig kaufen. Dann wissen Sie doch wenigstens, was Sie haben.«

»Ja«, sagte Ravic. »Dann wüßte ich, was ich hätte.«

»Na also, warum tun Sie es nicht?«

Ravic trank einen Schluck Kaffee. Er war bitter und sehr stark. »Veber«, sagte er, »Sie sind ein prächtiges Beispiel für die Krankheit unserer Zeit: bequemes Denken. In einem Atemzug bedauern Sie, daß ich illegal hier arbeiten muß, und gleichzeitig fragen Sie mich, warum ich kein Appartement miete.«

»Was hat das eine mit dem andern zu tun?«

Ravic lachte ungeduldig. »Wenn ich ein Appartement nehme, muß ich bei der Polizei angemeldet werden. Dazu brauche ich einen Paß und ein Visum.«

»Richtig. Daran habe ich nicht gedacht. Und im Hotel?«

»Da auch. Aber es gibt gottlob einige Hotels in Paris, die es mit dem Anmelden nicht so genau nehmen.« Ravic goß einen Schluck Kognak in seinen Kaffee. »Eines davon ist das ›International‹. Deshalb wohne ich da. Wie die Wirtin das arrangiert, weiß ich nicht. Sie muß gute Verbindungen haben. Entweder weiß die Polizei es wirklich nicht, oder sie wird geschmiert. Auf jeden Fall wohne ich schon ziemlich lange ungestört da.«

Veber lehnte sich zurück. »Ravic«, sagte er, »ich wußte das nicht. Ich dachte nur, Sie dürften hier nicht arbeiten. Das ist ja eine verdammte Situation.«

»Es ist ein Paradies, verglichen mit einem deutschen Konzentrationslager.«

»Und die Polizei? Wenn sie doch einmal kommt?«

»Wenn sie uns erwischt, gibt es ein paar Wochen Gefängnis und Ausweisung über die Grenze. Meistens in die Schweiz. Im Wiederholungsfalle sechs Monate Gefängnis.«

»Was?«

»Sechs Monate«, sagte Ravic.

Veber starrte ihn an. »Aber das ist doch unmöglich. Das ist ja unmenschlich.«

»Das dachte ich auch, bis ich es lernte.«

»Wieso lernte? Ist Ihnen denn das schon einmal passiert?«

»Nicht einmal. Dreimal. Ebenso wie hundert andern auch. Im Anfang, als ich noch nichts davon wußte und auf die sogenannte Humanität vertraute. Bevor ich nach Spanien ging — wo ich keinen Paß brauchte — und eine zweite Lektion in angewandter Humanität erhielt. Von deutschen und italienischen Fliegern. Später, als ich dann wieder hierher zurückkam, wußte ich natürlich Bescheid.«

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