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»Ich finde es nicht scheußlich. Ich hätte es nur nicht selbst tun können.«

Ravic schenkte die Gläser voll. »Trinken Sie das noch.«

Sie trank das Glas langsam aus. »Besser?« fragte er.

Sie sah ihn an. »Nicht besser und nicht schlechter. Gar nichts.«

Sie saß undeutlich in der Dämmerung. Manchmal huschte der rote Schein einer Leuchtreklame über ihr Gesicht und ihre Hände. »Ich kann nichts denken«, sagte sie, »solange er da ist.«

Die beiden Ambulanzgehilfen schlugen die Decke zurück und schoben die Bahre neben das Bett. Dann hoben sie den Körper hinüber. Sie taten es rasch und geschäftsmäßig. Ravic stand dicht neben der Frau für den Fall, daß sie ohnmächtig werden würde. Bevor die Gehilfen den Körper zudeckten, bückte er sich und nahm die kleine hölzerne Madonna vom Nachttisch. »Ich glaubte, das gehört Ihnen«, sagte er. »Wollen Sie es nicht behalten?«

»Nein.«

Er gab ihr die Figur. Sie nahm sie nicht. Er öffnete den kleinen Koffer und legte sie hinein.

Die Ambulanzgehilfen deckten ein Tuch über den Leichnam. Dann hoben sie die Bahre auf. Die Tür war schmal, und der Korridor draußen war nicht breit. Sie versuchten hindurchzukommen, aber es war unmöglich. Die Bahre stieß an.

»Wir müssen ihn herunternehmen«, sagte der ältere. »Wir kommen nicht um die Ecke mit ihm.«

Er sah Ravic an. »Kommen Sie«, sagte Ravic zu der Frau. »Wir können unten warten.«

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Gut«, sagte er zu den Gehilfen. »Tun Sie, was nötig ist.«

Die beiden hoben den Körper an den Füßen und an den Schultern auf und legten ihn auf den Fußboden. Ravic wollte etwas sagen. Er sah die Frau an. Sie rührte sich nicht. Er schwieg. Die Gehilfen trugen die Bahre hinaus. Dann kamen sie in die Dämmerung zurück und holten den Körper in den trübe beleuchteten Korridor. Ravic ging ihnen nach. Sie mußten den Körper sehr hoch heben, um die Treppe zu passieren. Ihre Köpfe schwollen an und wurden rot und feucht unter dem Gewicht, und der Tote schwebte über ihnen. Ravic sah ihnen nach, bis sie unten waren. Dann ging er zurück.

Die Frau stand am Fenster und sah hinaus. Auf der Straße das Auto. Die Gehilfen schoben die Bahre hinein wie ein Bäcker Brot in einen Ofen. Dann kletterten sie auf die Sitze, der Motor heulte auf, als schrie jemand aus der Erde, und der Wagen schoß in einer scharfen Kurve um die Ecke.

Die Frau drehte sich um. »Sie hätten vorher weggehen sollen«, sagte Ravic. »Wozu mußte sie das letzte noch sehen?«

»Ich konnte nicht. Ich konnte nicht von ihm gehen. Verstehen Sie das nicht?«

»Ja. Kommen Sie. Trinken Sie noch ein Glas.«

»Nein.«

Veber hatte den Lichtschalter angedreht, als die Polizei und die Ambulanz kamen. Der Raum erschien jetzt größer, seit der Körper fort war. Größer und sonderbar tot, als wäre der Körper fortgegangen und der Tod allein geblieben.

»Wollen Sie hier im Hotel bleiben? Doch sicher nicht?«

»Nein.«

»Haben Sie Bekannte hier?«

»Nein. Niemand.«

»Wissen Sie ein Hotel, in das Sie möchten?«

»Nein.«

»In der Nähe ist ein kleines Hotel, ähnlich wie dieses. Sauber und ehrlich.Wir könnten dort etwas für Sie finden. Hotel Milan.«

»Kann ich nicht in das Hotel gehen, wo ...? In Ihr Hotel?«

»Ins International?«

»Ja. Ich... es ist... ich kenne es nun schon etwas. Es ist besser als ein ganz unbekanntes.«

»Das International ist kein gutes Hotel für Frauen«, sagte Ravic. Das fehlte noch, dachte er. Im selben Hotel. Ich bin kein Krankenwärter. Und dann — vielleicht dachte sie, er hätte bereits eine Verpflichtung. Es gab das. »Ich kann Ihnen nicht dazu raten«, sagte er schroffer, als er gewollt hatte. »Es ist immer überfüllt. Mit Refugiés. Besser, Sie gehen zum Hotel Milan. Wenn es Ihnen nicht gefällt, können Sie es ja immer noch wechseln.«

Die Frau sah ihn an. Er hatte das Gefühl, daß sie wußte, was er dachte, und er war beschämt. Aber es war besser, einen Augenblick beschämt zu sein und dafür später Ruhe zu haben.

»Gut«, sagte die Frau. »Sie haben recht.«

Ravic ließ die Koffer hinunter in ein Taxi bringen. Das Hotel Milan war nur wenige Minuten entfernt. Er mietete ein Zimmer und ging mit der Frau hinauf. Es war ein Raum im zweiten Stock mit einer Tapete mit Rosengirlanden, einem Bett, einem Schrank und einem Tisch mit zwei Stühlen.

»Ist das genug?« fragte er.

»Ja. Sehr gut.«

Ravic musterte die Tapete. Sie war schauderhaft. »Es scheint immerhin hell zu sein«, sagte er. »Hell und sauber.«

»Ja.«

Die Koffer wurden heraufgebracht. »So, jetzt haben Sie alles hier.«

»Ja. Danke. Danke vielmals.«

Die Frau saß auf dem Bett. Ihr Gesicht war sehr blaß und verwaschen. »Sie sollten schlafen gehen. Glauben Sie, daß Sie es können?«

»Ich werde es versuchen.«

Ravic zog eine Aluminiumröhre aus der Tasche und schüttelte ein paar Tabletten heraus. »Hier ist etwas zum Schlafen. Mit einem Glas Wasser. Wollen Sie es jetzt nehmen?«

»Nein, später.«

»Gut. Ich werde jetzt gehen. In den nächsten Tagen werde ich nach Ihnen fragen. Versuchen Sie, sobald wie möglich zu schlafen. Hier ist die Adresse des Beerdigungsinstituts, wenn Sie noch etwas zu tun haben. Gehen Sie nicht hin. Denken Sie an sich. Ich werde nach Ihnen fragen.« Ravic zögerte einen Moment. »Wie heißen Sie?« fragte er.

»Madou. Joan Madou.«

»Joan Madou. Gut. Ich werde das behalten.« Er wußte, daß er es nicht behalten würde und daß er nicht nachfragen würde. Aber da er es wußte, wollte er den Schein aufrechterhalten. »Ich werde es doch lieber aufschreiben«, sagte er und zog einen Rezeptblock aus der Tasche. »Hier — wollen Sie es selbst schreiben? Es ist einfacher.«

Sie nahm den Block und schrieb ihren Namen. Er blickte darauf, riß das Blatt ab und steckte es in die Seitentasche seines Mantels. »Gehen Sie gleich schlafen«, sagte er. »Morgen sieht alles anders aus. Es klingt albern und abgegriffen, aber es ist wahr; alles, was Sie jetzt brauchen, ist Schlaf und etwas Zeit. Eine gewisse Zeit, die Sie überstehen müssen. Wissen Sie das?«

»Ja, ich weiß es.«

»Nehmen Sie die Tabletten und schlafen Sie.«

»Ja. Danke. Danke für alles — ich weiß nicht, was ich getan hätte ohne Sie. Ich weiß es wirklich nicht.«

Sie gab ihm die Hand. Sie war kühl, aber sie hatte einen festen Druck. Gut, dachte er. Etwas von einem Entschluß ist schon da.

Ravic trat auf die Straße hinaus. Er atmete den Wind, der feucht und weich war. Automobile, Menschen, ein paar fremde Huren bereits an den Ecken, Brasserien, Bistros, der Geruch nach Tabak, Aperitifs und Benzin — schwankendes, rasches Leben. Er blickte die Hausfront hinauf. Ein paar erleuchtete Fenster. Hinter einem davon saß jetzt die Frau und starrte vor sich hin. Er zog den Zettel mit dem Namen aus der Tasche, zerriß ihn und warf ihn fort. Vergessen. Welch ein Wort. Voll von Grauen, Trost und Gespensterei! Wer konnte leben, ohne zu vergessen? Aber wer konnte genug vergessen? Die Schlacken der Erinnerung, die das Herz zerrissen. Erst wenn man nichts mehr hatte, für das man lebte, war man frei.

Er ging zum Etoile. Eine große Menschenmenge füllte den Platz. Hinter dem Arc de Triomphe waren Scheinwerfer. Sie beleuchteten das Grab des Unbekannten Soldaten. Eine riesige blauweißrote Fahne wehte darüber im Winde. Es war der zwanzigste Jahrestag des Waffenstillstandes von 1918.

Der Himmel war bedeckt, und die Strahlen der Scheinwerfer warfen den Schatten der Fahne matt, verwischt und zerrissen gegen die ziehenden Wolken. Es sah aus, als versinke dort ein zerfetztes Banner in der langsam tiefer werdenden Dunkelheit. Eine Militärkapelle spielte irgendwo. Es klang dünn und blechern. Niemand sang. Die Menge stand schweigend. »Waffenstillstand«, sagte eine Frau neben Ravic. »Mein Mann ist im letzten Krieg gefallen. Jetzt ist mein Sohn dran. Waffenstillstand. Wer weiß, was noch kommen wird...«

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